Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Geschichten aus dem Advent, Folge 4:Wenn die Seele zur Ruhe kommt

Lesezeit: 2 Min.

Barthl Sailer wehrt sich gegen die Hektik der Adventszeit. Und deshalb will der 64-Jährige auch anderen Menschen eine Zeit des Verweilens ermöglichen - mit einer Lesung von Thomas "Heilige Nacht" in Grafrath

Von Valentina Finger, Grafrath

Die letzte S-Bahn-Fahrt von der Arbeit nach Hause vor den Feiertagen war für Barthl Sailer stets Weihnachten pur. Wie der kurze Moment der Stille, bevor ein Flugzeug am Boden aufsetzt, beschreibt er das Gefühl, das er mit der Aussicht auf ein paar Tage Entspannung verbunden hat. Noch immer gehört für Sailer, der mittlerweile in Altersteilzeit beschäftigt ist, zu einer gelungenen Weihnacht vor allem Ruhe. Der Hektik, die so viele in den Adventswochen ergreift, möchte er so weit wie möglich entgehen.

Deswegen besuchen er und seine Lebensgefährtin ihre Familien nacheinander zwischen den Jahren, anstatt krampfhaft zu versuchen, an Heiligabend alle an einen Tisch zu bringen. Um jeden Preis einen Christbaum aufstellen, obwohl die Wohnung dafür zu klein ist? Muss nicht sein. Jedes Jahr dasselbe Traditionsessen servieren, wenn man doch eigentlich auf etwas anderes Lust hat? Lieber nicht. Wer jetzt jedoch glaubt, Barthl Sailer hätte kein Gespür für festliche Gepflogenheiten, dem lehrt er das Gegenteil: "Wo bleibt der Sinn von Weihnachten, wenn man immer nur bei allem in Stress verfällt, anstatt sich einfach mal zu besinnen?"

Weil man viel Muße braucht, wenn man anderen vorliest, fühlt sich Barthl Sailer in der Rolle des Vorlesers so wohl. Damit auch seine Zuhörer entspannt in die unmittelbare Vorweihnachtszeit starten können, liest er am Samstag um 17 Uhr in der Kirche Sankt Mauritius in Grafrath-Unteralting die "Heilige Nacht" von Ludwig Thoma. Die Weihnachtsgeschichte, die vor fast 100 Jahren veröffentlicht wurde, erzählt die biblische Überlieferung von Maria, Josef und der Geburt des Jesuskinds. So ganz wie im Neuen Testament klingt das jedoch nicht. Vielmehr schildert der Erzähler bei Thoma, der damals seinen Lebensabend am Tegernsee verbrachte, die Begebenheiten salopp in altbairischer Mundart.

Die ersten Strophen der Geschichte, in denen mitunter die Unzufriedenheit der einfachen Bevölkerung geschildert wird, gefallen Sailer besonders. "Es wird deutlich, dass es um ganz normale Leute geht. Die Themen bleiben aktuell und der Text wird es auch bleiben, so lange es Menschen gibt, die die bairische Sprache lieben", sagt der 64-Jährige. Schon im vergangenen Jahr hat er Thomas Weihnachtsgeschichte für den Grafrather Kulturverein Sankt Rasso vorgelesen, damals in der dortigen Klosterkirche. Den etwas intimeren Rahmen von Sankt Mauritius schätzt Sailer sehr, obwohl er selbst kein Kirchengänger ist. Einen besser geeigneten Ort für die Lesung könne er sich nicht vorstellen, sagt er. "Ich sehe die Kirche nicht aus der Perspektive eines streng Gläubigen, sondern als festlich geschmückten Raum, in dem man stimmungsvoll zusammenkommt", so Sailer, der vor seinem Umzug zurück nach München selbst viele Jahre in Grafrath gewohnt hat.

Die Schlichtheit, mit der Thoma auf unspektakuläre Weise Alltagsdinge erzählt, gefalle ihm, sagt er. Deswegen soll die Lesung, die musikalisch von dem Grafrather Dreigesang und der Kottgeiseringer Stubenmusik begleitet wird, auch für sich stehen. Weder davor noch danach will er viel zu dem Text sagen, betont Sailer: "Man kann da auf seiner Kirchenbank sitzen und die Augen schließen. Es geht nur um die Stimme des Vorlesers. Mehr braucht es nicht."

Sailer weiß, wie man andere Menschen mit Erzählungen begeistert. Seit einiger Zeit liest er regelmäßig der Kindergartengruppe seines Enkelsohns Ben sowie als "Opa Barthl" in einer Münchner Mutter-Kind-Initiative vor. Außerdem gestaltet er mit einem Freund Lesungen in dessen Bücherei. Auch privat vergeht kein Treffen mit seinen Enkeln, bei dem sie nicht in einem Buchladen vorbeischauen. Für Sailer sollen seine Lesungen im Idealfall selbst wie Weihnachten sein: "Sich Zeit nehmen, abschalten und genießen: Es geht darum, einfach mal den Mund zu halten und nach innen zu schauen."

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Quelle:
SZ vom 30.11.2016
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