SZ-Serie: Betrachtungen zur Lokalpolitik im Landkreis, Folge 4:"SPD ist Garant für die Demokratie"

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Vor 30 Jahren hat Rosemarie Grützner die Landratswahl gewonnen. Für die Sozialdemokraten im Landkreis war es eine sehr erfolgreiche Zeit. Heute verkaufe sich die Partei zu schlecht, sagt die Politikerin

Interview von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Kommunalwahlen enden gelegentlich mit einer Sensation. Eine solche war vor 30 Jahren der Sieg der politischen Seiteneinsteigerin Rosemarie Grützner (SPD) gegen den damaligen Landrat Gottfried Grimm (CSU). Sie war von 1990 bis 1996 Landrätin von Fürstenfeldbruck und wurde dann vom Neuling Thomas Karmasin (CSU) abgelöst - der immer noch im Amt ist. Im SZ-Interview äußert sich die 69 Jahre alte Eichenauerin zum Niedergang ihrer Partei. Sie blickt aber auch auf sechs Jahre als Landrätin zurück. In dieser Zeit galt der Landkreis als SPD-Frauenhochburg.

SZ: In Bayern bewegt sich die SPD in Richtung Fünf-Prozent-Hürde. Im Bund erreicht sie Umfragewerte von um die 13 Prozent. Lässt sich der Trend noch umkehren?

Rosemarie Grützner: Ich wünsche mir das sehr, habe aber kein Rezept dafür, sonst wäre ich bei meiner Partei schon vorstellig geworden.

Wie fühlt man sich als Sozialdemokratin angesichts dieser Erosion?

Ich fühle mich hilflos und auch ein Stück weit gelähmt. Die SPD darf in keinem Fall von der Bildfläche verschwinden - sie ist ein Garant für die Demokratie und die Solidarität in unserer Gesellschaft, in unserem Land.

Warum ist die SPD für viele unattraktiv? Liegt das daran, dass die moralinsaure Unzufriedenheit überwiegt, man eigene Leistungen aber kaum anerkennt?

Verkaufen kann sie sich nicht gut. Das stimmt. Man kann auch sagen, dass sie im Zweifelsfall mehr klagt, als ihre Erfolge darzustellen. Und die sind beachtlich, wenn ich nur beispielsweise an die Lebensleistungsrente, die Einführung des Mindestlohns, die abschlagsfreie Rente mit 63 oder an das Gute-Kita-Gesetz denke.

Leiden Sie an der SPD?

Ja. Die Situation tut mir und vielen Genossinnen und Genossen weh.

Ist es ein Trost, dass auch die Union massiv Wähler verliert?

Schadenfreude hilft hier nicht weiter, und ich finde sie grundsätzlich nicht gut.

Sehen Sie in den Verlusten der Volksparteien ein Indiz für eine Demokratie-Krise?

Nein. Sonst gäbe es keine Zuwächse wie bei den Grünen. Ich kann mir - gerade aus unserer Geschichte heraus - auch kein anderes, kein besseres politisches Modell vorstellen.

Rosemarie Grützner an ihrem Schreibtisch. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Was machen die Grünen besser? Ihren ak tuellen Aufstieg verdanken sie dem Klimawandel und dem Versprechen, Welt und Demokratie durch radikales Umdenken beim Ressourcenverbrauch zu retten.

Sie sind im Vergleich zu uns eine junge Partei, die sich in den letzten 40 Jahren alles neu erarbeitet hat mit den unterschiedlichsten Personen und Strömungen. Dadurch sind die Grünen sicher im Vorteil. Eine Traditionspartei wie die SPD orientiert sich eher am Bisherigen. Es wird fortgesetzt, was man schon immer gemacht hat. Das habe ich bereits zu spüren bekommen, als ich noch bei den Jusos war.

Tradition als Hemmschuh . Aber hat sich die SPD nicht wegen des von ihr erkämpften sozialen Aufstiegs ihrer klassischen Wähler, der Arbeiter, überlebt?

Den Aufstieg der Facharbeiter gibt es, das ist gut so. Aber es gibt immer noch Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern, die ausgebeutet werden und schlechte Löhne bekommen. Zum Beispiel viele Minijobber oder Reinigungskräfte, Paketboten und so weiter. Oftmals reicht hier das Gehalt von einem Arbeitsplatz nicht, um vernünftige Lebensgrundlagen zu sichern, und Altersarmut ist vorprogrammiert. Allerdings ist die SPD teilweise so weit in die Mitte gerückt, dass sie diese Stammklientel verloren hat. Statt sich um die zu kümmern, hat sie den Spitzensteuersatz gesenkt und zusammen mit der CDU in der großen Koalition die Mehrwertsteuer erhöht.

Im Landkreis probiert die SPD was Neues. Christoph Maier zieht als singender Landratskandidat in den Wahlkampf. Die Botschaft, 3000 Wohnungen mit bezahlbaren Mieten zu bauen, präsentiert er als Rock-Show. Was halten Sie davon?

Wenn er sich von den Auftritten als Sänger verspricht, ins Gespräch zu kommen, warum nicht? Ich halte es für ehrenwert und notwendig, 3000 Wohnungen bauen zu wollen, wenn die Gemeinden bereit sind, dafür den Baugrund zur Verfügung zu stellen und auszuweisen.

Also einfach machen. Wird zu viel über Umfragewerte und Vorsitzende und zu wenig über Arbeit an der Basis geredet?

Umfragewerte spielen deshalb eine so große Rolle, weil die Öffentlichkeit sich daran orientiert, und man sich durch schlechte Ergebnisse verunsichern lässt. Das ist fatal und hat nichts mit vernünftiger Arbeit zu tun. Die Basis entwickelt doch Konzepte, weil sie die Probleme vor Ort kennt und denkt, dass sie gute Lösungen gefunden hat. Man braucht eine klare Linie, um erkennbar zu sein, unabhängig von aktuellen Umfragen. Man kann nicht "Everybody's Darling" sein. In dem Punkt gebe ich Franz Josef Strauß Recht.

Eine solche klare Linie verfolgt die Landkreis-SPD beim Wohnungsbau. Aber es dauerte Jahrzehnte bis zur Gründung einer interkommunalen Wohnungsbaugesellschaft 2019.

Das stimmt. Das hatte die SPD schon in meiner Amtszeit beantragt. Gescheitert ist das Vorhaben an den Vorstellungen der Gemeinden. Ich könnte mir - als Einstieg - eine Wohnungsbaugesellschaft vorstellen, die ihr Knowhow zur Verfügung stellt, damit Kommunen im Landkreis schneller und günstiger bauen können, weil Synergieeffekte erzielt werden. Das wäre enorm wichtig, damit auch Menschen mit niedrigerem Einkommen das Leben im Landkreis ermöglicht wird.

Wie viel Parteipolitik verträgt ein Kreistag oder Gemeinderat? Schließlich werden hier pragmatische Entscheidungen getroffen.

Parteipolitik ist für mich nichts Theoretisches. Sie war die Grundlage für mein praktisches Handeln in der Politik. Ich denke schon, dass es unterschiedliche Ansätze gibt für politische Lösungen - je nach Parteizugehörigkeit. Wenn ich allein in meiner Amtszeit an die Diskussionen um die Errichtung des Frauenhauses oder um die Wiedereröffnung stillgelegter Stationen im Krankenhaus denke.

(Foto: oh)

Schwächelt die SPD, weil sie in Vereinen und Organisationen nicht mehr so vertreten ist wie früher? Mit weniger Präsenz und der Zusammenlegung von Ortsvereinen schwindet ja der Rückhalt.

Natürlich. Nachwuchs lässt sich heute zunehmend schwerer finden und motivieren. Das ist nicht nur ein SPD-Problem, es geht allen Parteien so.

Was ist das SPD-Narrativ des Jahres 2020? Eklektizismus, für jede Gruppe ein maßgeschneidertes Zuckerl wie Solidarrente (Senioren), Recht auf Homeoffice (Junge), Gute-Kita-Gesetz (Familien)?

Nein, für mich gilt als SPD-Mitglied immer noch das Wort von Gustav Heinemann: "Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Mitglieder verfährt". Es gibt in vielen Bereichen Leute, die weder eine Lobby noch einen Ansprechpartner haben, um Gehör zu finden. Hier sehe ich eine ganz wesentliche Aufgabe der SPD. Und die muss zwangsläufig vielfältig sein.

Warum kommt diese Botschaft nicht an?

An der Darstellung der erreichten Ergebnisse hapert es. Die SPD hat in der großen Koalition viel erreicht, sie bräuchte also nicht mit Austrittsgedanken zu spielen. Überlegen Sie mal, wo die Gesellschaft stehen würde, wenn die SPD nicht mitregiert hätte.

Vertragen sich Individualisierung und SPD nicht?

Im Gegenteil, gerade jetzt wird der SPD-Grundsatz der Solidarität immer wichtiger. Sonst entsteht aus dieser Individualisierung eine Ellenbogengesellschaft, in der jeder nur noch an sich denkt und sich nicht mehr dafür interessiert, wie es dem Nachbarn geht. Das erleben wir heute leider schon viel zu oft.

Befürchten Sie, im März könnten in Rathäusern und Landratsämtern die letzten SPD-Bastionen fallen, München eine grüne Oberbürgermeisterin bekommen?

Wir haben sehr gute und engagierte Leute in den kommunalen Gremien, und das wissen Wählerinnen und Wähler auch. Ich hoffe, dass sie das am Wahltag nicht vergessen.

Können diesmal fünf Gegenkandidaten den CSU-Landrat Thomas Karmasin in die Stichwahl zwingen? Sie haben das 1990 gegen Gottfried Grimm geschafft, obwohl die wenigsten in der SPD das für möglich gehalten hatten.

Ich denke nicht, dass es nur von der Anzahl der Gegenkandidaten abhängt, ob Landrat Karmasin in die Stichwahl kommt. Sicher bewerten die Wähler auch seine Arbeit bei der Stimmvergabe.

Was war Ihr Erfolgsrezept? Gelang Ihnen das Unmögliche, weil Sie unkonventionell, frech und selbstbewusst auftraten?

Letztlich konnte ich den CSU-Landrat besiegen, weil die Leute ihn (Gottfried Grimm, Anm. d. Red.) nach 18 Jahren nicht mehr wollten. Auch alte CSU-Recken haben ihn nicht mehr gewählt. Ich war als Seiteneinsteigerin keine stromlinienförmige Politikerin und damit eben auch unkonventionell.

Dachten Sie jemals darüber nach, als SPD-Bewerberin in einem konservativen Landkreis chancenlos zu sein?

Natürlich habe ich das getan. Aber das war für mich kein Hindernis. Wenn man sich einer solchen Kandidatur stellt, muss man das auch zu Ende bringen. Wenn ich Verantwortung übernehme, ziehe ich das durch.

Was braucht ein Sozialdemokrat, um in Bayern gegen den Bundes- und Landestrend bei der Kommunalwahl zu bestehen?

Man muss an sich glauben und es auch unbedingt wollen. Zudem muss man mit den Menschen reden können. Die persönliche Begegnung spielt eine ganz wichtige Rolle. Gut ist es auch, sich auf einige Themen zu beschränken, die überschaubar sind, und hier klar Farbe bekennen.

Sollen Bewerber SPD-Grundsätze hochhalten oder das eigene Profil und für lokale Fragen pragmatische Lösungen bieten?

Für mich sind die SPD-Grundsätze keine ideologischen Fantasien, sondern eine sehr pragmatische Leitschnur für das politische Handeln, egal bei welchen Themen, ob Wohnungsbau, Krankenhaus, Umwelt- oder Verkehrspolitik, zum Beispiel ÖPNV-Ausbau. In den beispielhaft genannten Bereichen geht es um Anliegen, die in unterschiedlicher Art die Bürgerinnen und Bürger des Landkreises betreffen und die zum Besten für alle gelöst werden müssen.

Ihr Sieg fand damals ein bundesweites Echo, weil der Landkreis eine SPD-Frauenhochburg war. Die SPD stellte neben der Landrätin die Oberbürgermeisterin der Kreisstadt und je eine Bundestags-, Landtags- und Bezirkstagsabgeordnete. Wie sehen Sie das im Rückblick?

Ich fand das natürlich super. Auch für Markus Söder wäre solch ein Ergebnis eine Steilvorlage. Er klagt ja immer, die CSU habe zu wenig Frauen in wichtigen Ämtern. Ich denke, Herr Söder hätte gern unser Rezept.

Kann die neue Doppelspitze die SPD aus dem Tief herausführen? Oder muss die Reform von einer selbstbewussten Basis ausgehen, die überholte Strukturen aufbricht?

Eine Parteireform muss immer gemeinsam mit der Basis erarbeitet werden. Die lässt sich nicht von oben diktieren. Ich würde mir wünschen, dass Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans es schaffen. Von Esken weiß ich wenig. Vor Walter-Borjans habe ich großen Respekt, weil er sich traute, als Finanzminister die Steuer-CDs zu kaufen. Ein Vielfaches des Kaufpreises holte er über die Steuernachforderungen zurück. Er holte sich die Steuern dort, wo sie dem Staat rechtswidrig entzogen wurden, und konnte damit die Allgemeinheit entlasten. Das ist keine verbrämte SPD-Ideologie, das ist ganz pragmatische Politik im Interesse aller Bürger.

© SZ vom 18.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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