SZ-Adventskalender:"Wir wollen nicht mehr als Last bezeichnet werden."

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Zerstörtes Klassenzimmer: Bis zu ihrer Flucht war Mina Nowruzi Englischlehrerin in Kabul. (Foto: Abdul Khaliq/AP)

Eine Mutter flieht alleine mit ihren drei Kindern aus Afghanistan. Der Vater ist verschollen. Das Trauma der Flucht und Feindseligkeiten in Deutschland erschweren ihr das Leben. Nun kommen steigende Kosten dazu.

Von Ingrid Hügenell, Fürstenfeldbruck

"Wir wollen niemandem zur Last fallen. Wir wollen nur in Frieden leben." Mehrmals wiederholt Mina Nowruzi (Name geändert) im Gespräch diese Sätze. Die 44-jährige gebürtige Afghanin lebt seit acht Jahren mit ihren drei Kindern im Landkreis. 2014 mussten die Mutter und die drei minderjährigen Kinder aus Afghanistan fliehen - die Taliban hatten den Ehemann und Vater verschleppt. Er ist seither verschwunden.

Der Mann war Bauingenieur. Er habe auch in Provinzen gearbeitet, die die Taliban kontrollierten, berichtet Mina Nowruzi. Das sei den Fundamentalisten nicht recht gewesen. Sie bedrohten ihn mehrfach, doch er wollte sich seine Arbeit nicht verbieten lassen. Dann verschwand er. Ob er noch lebt, weiß niemand. Es gilt als eher unwahrscheinlich.

Der Familie gelang es, mithilfe von Schleusern zu fliehen. Davon will Mina Nowruzi nicht viel erzählen. Bis heute leiden Mutter und erwachsene Kinder unter den Folgen der Flucht, vor allem aber unter der quälenden, zermürbenden Ungewissheit, was mit dem Mann und Vater geschah. Aber auch unter feindseligem Verhalten, das sie in Deutschland wieder und wieder erleben. Seit Jahren könne sie nicht schlafen, erzählt Nowruzi. Schließlich laste die ganze Verantwortung auf ihr. Und doch mache sie immer weiter. "Es geht, weil es gehen muss."

Panikattacken und Schwindelanfälle sind Folgen der traumatischen Flucht.

Das jüngste Kind werde immer wieder von Panikattacken und Schwindelanfällen heimgesucht, dabei fehle ihm organisch nichts. Das sei 2019 bei einem Klinikaufenthalt abgeklärt worden. Dennoch möchte es im kommenden Jahr Abitur machen. Denn in der Schule sei es sehr gut, berichtet die Mutter. Die psychischen Probleme erschweren das Lernen. Zu verbissen lerne das Kind, gönne sich zu wenige Pausen, verkrampfe. Das Kind "will es richtig machen", erklärt die Mutter. Doch es fehle die richtige Strategie.

Deshalb hilft ein Lerncoach. Das klappe auch ziemlich gut, sagt Mina Nowruzi. Doch nun wird das Geld knapp. Der Adventskalender der Süddeutschen Zeitung möchte die Familie daher durch die Übernahme der Kosten für das Coaching unterstützen. Zudem brauchen Mutter und Kind neue Brillen. Und Fahrräder, um mobiler zu sein.

Die 44-Jährige ist eine sehr gepflegte, attraktive Frau, die das Haar offen trägt. Sie spricht fast fehlerfrei Deutsch sowie als weitere Fremdsprachen Englisch und Urdu, hat in Afghanistan Englisch unterrichtet. Urdu habe sie gelernt, als sie 14 Jahre lang in Pakistan lebte, nach ihrer ersten Flucht aus ihrem Heimatland. Dort herrschen seit 40 Jahren Krieg und Bürgerkrieg. Die Lebenserwartung liegt bei unter 60 Jahren. In Deutschland sind es mehr als 80.

"Das ist das einzige Mal, dass ich etwas für mich getan habe", sagt sie über den Aufenthalt in der Klinik.

Trotz aller Schwierigkeiten gelang es Mina Nowruzi, eine Arbeit zu finden als Empfangsdame und Sachbearbeiterin bei einem großen Logistikunternehmen im Münchner Osten. Lange ging das gut, trotz der weiten Entfernung zum Arbeitsplatz, die sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen muss - sie hat keinen Führerschein. Im September erlitt sie jedoch einen Zusammenbruch. Für sechs Wochen musste sie in die Klinik, war danach lange krank geschrieben. Dort habe sie viele nette Leute getroffen und endlich offen ihre Geschichte erzählen können. "Das ist das einzige Mal, dass ich etwas für mich getan habe", sagt sie über den Aufenthalt in der Klinik.

Doch finanziell wurde es knapp, sie erhielt nur noch Krankentagegeld. Zugleich steigen die Nebenkosten wegen der Energiekrise, und natürlich merkt die Familie stark, dass fast alles teurer wird. Zwei Raten für den Lerncoach stehen deswegen aus, eine Klassenfahrt steht an, und für die Sehhilfen ist gar kein Geld da.

In Schule und am Ausbildungsplatz werden die Kinder gemobbt.

Dabei arbeitet das mit Anfang 20 älteste Kind bei einem Möbelhaus und lebt in einer eigenen Wohnung, das mittlere macht eine Ausbildung. "Wir wollten nicht mehr abhängig sein vom Jobcenter, wollten nicht mehr als Last bezeichnet werden", sagt Nowruzi. "Allein schon wegen der psychischen Belastung." Die ist für alle vier auch deswegen hoch, weil die Kinder in Schule und bei der Ausbildung gemobbt und rassistisch beleidigt wurden.

Das älteste Kind litt deshalb ein Jahr lang unter heftigen Depressionen, konnte die Ausbildung nicht beenden. Um vor allem das jüngste Kind vor weiterer Traumatisierung zu schützen, werden Alter, Geschlecht und Wohnort hier nicht genannt.

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