SZ-Adventskalender:Schritt für Schritt

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Weil die Krankenkasse nicht für den Transport in eine Spezialpraxis zahlen wollte, drohte Angelika Klein zeitweise die Amputation des rechten Vorderfußes. Er konnte gerettet werden, trotzdem kämpft die 67-Jährige noch mit einigen Problemen

Von Florian J. Haamann

Das Schicksal von Angelika Kleins rechtem Fuß schien bereits besiegelt: Weil die Krankenkasse sich weigerte, die Fahrten zu einem Münchner Spezialisten zu zahlen, blieb eigentlich nur eine Wahl: den Vorderfuß amputieren lassen. Nur Dank viel gutem Willen und dem Engagement der Seniorenhilfe Sonnenstrahl der Bürgerstiftung konnte Kleins Fuß im letzten Moment gerettet werden. Das geradezu Zynische: Die teure Fußprothese, die nach einer Amputation nötige gewesen wäre, hätte die Kasse übernommen. Doch so weit ist es nicht gekommen, die 67-Jährige hat die Behandlung gut überstanden, der Fuß konnte gerettet werden.

Die Sorgen allerdings sind dadurch nicht weniger geworden. Denn sie bräuchte dringend auch eine neue Brille, behilft sich mit günstigen Modellen aus dem Drogeriemarkt, die aber alle nicht das sind, was sie eigentlich braucht. "Ich habe Diabetes, und das schlägt sich auch auf die Augen nieder, ich müsste dringend zum Arzt und das überprüfen lassen und dann die passende Brille besorgen", sagt Klein. Auch diese gehört längst nicht mehr zum Leistungskatalog der Krankenkasse. Selbst kann sich die 67-Jährige, die von der Grundsicherung lebt, eine teure Gleitsichtbrille allerdings überhaupt nicht leisten. Deshalb möchte der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung sie bei der Anschaffung unterstützen.

Doch langsam rücken all die anderen Probleme wieder in ihr Bewusstsein. Denn fast ein dreiviertel Jahr lang bestimmten die Sorgen um den Fuß ihr Leben. Angefangen hat alles mit einer Wunde unter den Zehen, kurz vor Ostern. Was wenig dramatisch klingt, war für die 67-Jährige ein großes Problem - wegen ihrer Diabetes ist ihre Wundheilung problematisch. "Ich wurde ständig behandelt, die Ärzte haben alles versucht, aber nichts hat geholfen." Mal musste sie zwei Wochen im Krankenhaus bleiben, mal einen ganzen Monat. "Eigentlich immer, wenn ich zur Kontrolle gegangen bin, haben sie mich gleich wieder dabehalten". Dann die erste schockierende Diagnose: Zwei Zehen müssen amputiert werden. Alternativlos. "Es war furchtbar. Ich wollte das nicht. Ich habe gesagt, nein, ich gehe jetzt nach Hause". Es folgten Panikattacken, schlaflose Nächte. Erst die Tochter konnte Klein überzeugen. "Ich hatte solche Angst, dass ich danach nicht mehr schwimmen kann, das ist doch meine große Leidenschaft".

Das erste Mal zur Tafel gehen zu müssen, habe sich angefühlt, als sei sie jetzt eine Bettlerin, sagt Angelika Klein. Mittlerweile ist die Scham gewichen - meistens zumindest. (Foto: Günther Reger)

Nach der Operation ging das Spiel von vorne los. Die Wunde heilte nicht, die Ärzte in der Münchner Klinik waren ratlos. Klein stand vor der Alternative, sich in einer spezialisierten Praxis behandeln zu lassen, oder aber der vordere Teil des Fußes müsste komplett abgenommen werden. Doch trotz der klaren Diagnose und ärztlichen Schreiben erklärte die Krankenkasse, dass sie die Fahrten mit dem Krankentransport nicht übernehme. "Ich war völlig fertig, als ich das gehört habe. Ich wusste nicht, wo ich soviel Geld herkriegen soll", sagt Klein.

Warum die Kasse die Kosten nicht übernommen hat? Nun, weil zwar die Fahrten zu stationären Aufenthalten im Leistungskatalog stehen, zu ambulanter Versorgung allerdings nicht, erklärt Kleins Betreuerin, die nicht namentlich genannt werden möchte. Auch die Anrufung des Berufungsausschusses hat nicht geholfen. "Die haben entschieden, dass sie da keine Ausnahme machen". Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit denen Klein zu den vorherigen Untersuchungen gekommen ist, konnte sie nicht fahren, nach der Amputation der Zehen durfte sie den Fuß nicht belasten, zu groß die Gefahr, dass die Wunde wieder aufreißt. Kleins großes Glück war, dass der Transportunternehmer sie trotz ungeklärter Finanzierung gefahren hat. "Der war so nett zu mir und hat gesagt, ich soll mir keine Sorge machen. Er meinte zu mir, die Chancen bei der Krankenkasse stehen zwar schlecht, aber er kann auch nicht verantworten, dass ich nicht behandelt werde", erzählt die 67-Jährige. Und mit Hilfe ihrer Betreuerin hat Klein dann doch noch Unterstützung gefunden. Die Seniorenhilfe Sonnenstrahl hat die Kosten übernommen.

Die Behandlung beim Spezialisten hat direkt angeschlagen, mittlerweile sind die Wunden am Fuß komplett verheilt. Richtig klar kommt Klein mit dem Fuß allerdings noch nicht. Gerade erst war sie das erste Mal nach all den Monaten wieder schwimmen. "Aber ich habe meine Socken angelassen, weil ich nicht wollte, dass das jemand sieht. Eigentlich lasse ich immer meine Socken an".

Es ist nicht das erste Mal, dass Klein lernen musste, mit Scham umzugehen. Viele Jahre hat sie als Friseurmeisterin gearbeitet, als sie dann aus dem Job ausschied, lag die Rente unter dem Grundsicherungsniveau. Bei ihren ersten Besuchen der Tafel sei sie sich vorgekommen wie eine Bettlerin. "Ich habe gedacht, alle schauen mich an. Man hat einfach das Gefühl minderwertig zu sein". Auch wenn sie mittlerweile damit besser umgehen könne, richtig daran gewöhnt habe sie sich nie.

Doch war nicht der einzige Rückschlag. Nach fast 30 Jahren Ehe hatte sich Klein von ihrem Mann scheiden lassen. Zwei der drei Kinder wandten sich von ihr ab - und sie sich dem Alkohol zu. Sie wurde depressiv, verlor den Kontakt zum Leben. Weil sie keine Anträge mehr ausfüllte, wurde die Arbeitsagentur aufmerksam. 2009 wurde ihr deshalb die Betreuerin zugeteilt. "Sie ist mein Engel, ich habe ihr so viel zu verdanken", sagt Klein. Mit der Hilfe bekam die 67-Jährige den Alkohol und ihre Schulden in den Griff, ihre psychischen und körperlichen Probleme, neben der Diabetes leidet sie an der Nervenkrankheit Polyneuropathie, werden behandelt.

Neben dem schützenden Engel gibt es noch ein "Sternchen", das Klein durchs Leben begleitet: ihre Enkelin. Weil deren Mutter gerade einen neuen Job in München angefangen hat, passt die Senioren momentan häufig auf die Vierjährige auf. "Mit ihr war ich kürzlich das erste Mal seit 40 Jahren wieder im Kino. Und dann waren wir noch bei einem Puppentheater über die Schlümpfe. Es war so schön, wie sie da gelacht hat". Genauso toll sei der Ausflug zum Weihnachtsmarkt am vergangenen Wochenende gewesen. Die Enkelin ist Karussell gefahren, gemeinsam haben sie Crêpes gegessen. "Ihre Mama hat ihr ein bisschen Taschengeld mitgegeben, das haben wir richtig auf den Kopf gehauen", sagt Klein und lacht.

Es sind die Momente, in denen sie über ihre Zeit und die Ausflüge mit der Enkelin spricht, in denen Klein all ihre Sorgen, von denen sie eben noch erzählt hat, völlig vergisst, wie ausgewechselt wird. Doch an einem Punkt kippt ihre Stimmung wieder. Denn eines belastet sie sehr. "Ich würde meiner Enkelin so gerne einmal das zu Weihnachten schenken, was sie sich von mir wünscht. Seit sie vier geworden ist, ist sie total in der Barbie-Phase. Deswegen möchte sie von mir den Camper, mit Pool und Rutsche". Dafür habe sie doch gar keinen Platz, habe sie ausweichend geantwortet. Der SZ-Adventskalender möchte Klein nun ermöglichen, dass sie ihrer Enkelin zu Weihnachten einmal die Freude zurück geben kann, die sie sonst von ihr bekommt.

© SZ vom 09.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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