SZ-Adventskalender:Kampf gegen den eigenen Körper und die Behörden

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Julia Köpplinger hilft ein Rollator beim Laufen - auch in ihrer eigenen Wohnung. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Vor zwei Jahren bekommt die junge Bruckerin Julia Köpplinger eine erschütternde Diagnose: Sie leidet an Multipler Sklerose. Seitdem kann sie nicht mehr arbeiten und ihren Sohn nur noch einen Tag pro Woche sehen. Einen Pflegegrad bekommt sie nicht bewilligt.

Von Ekaterina Kel, Fürstenfeldbruck

Durch die großen Brillengläser hindurch schauen Julia Köpplingers haselnussbraune, große Augen auf die Fotowand über ihrem Schreibtisch. Auf Dutzenden Bildern sieht man dort den immerselben Jungen, mal auf dem Fahrrad, mal im Park, fast immer mit einem breiten Grinsen - es ist Köpplingers Sohn. Sie neigt ihren Kopf leicht zur Seite. In ihrem Blick liegen Sehnsucht und eine tiefe Traurigkeit. Denn den heute Siebenjährigen kann sie aufgrund ihrer Krankheit nur noch einmal pro Woche sehen, weil die Multiple Sklerose, die auch unter der Abkürzung MS bekannt ist, unaufhaltsam an Köpplingers Nervensystem nagt und sie sich deshalb nicht mehr vollumfänglich um das Kind kümmern kann.

Der Vater des Kindes, Köpplingers Ex-Mann, bringt ihr den Jungen vorbei. Eine Übernachtung, viel Kuscheln, dann geht es wieder zurück. "Danach bin ich erledigt", sagt Köpplinger. Ihr Körper mag aufgrund der Krankheit nicht mehr so wie sie. Eine Müdigkeit macht sich im Laufe des Tages breit, alltägliche Bewegungen fallen ihr schwer. "So ein Siebenjähriger will raus, mit Freunden spielen, herumtollen, viel laufen." Deshalb möchte Köpplinger unbedingt einmal mit ihm in den Urlaub fahren. Gemeinsame, sorgenfreie Zeit, Erholung für Mutter und Sohn - doch ihre finanzielle Situation macht das unmöglich. Die Rente fällt gering aus, weil sie nicht lange als Krankenschwester gearbeitet hat, der Unterhalt vom Ex-Mann endet im kommenden Jahr. Der Adventskalender der Süddeutschen Zeitung möchte die 35-Jährige deshalb bei ihrem Wunsch unterstützen.

Die MS beeinträchtigt Köpplinger in vielen alltäglichen Dingen. Sie kann sich nicht mehr auf sich selbst verlassen, ihr Nervensystem lässt sie langsam im Stich. Mal macht sie das Geschirr und mittendrin fällt ihr ein, dass sie auf Toilette muss. Sie geht sofort hin - das Wasser in der Küche läuft dann eine halbe Stunde weiter, während sie längst vergessen hat, was sie davor getan hat. Mal will sie den Tisch decken und holt zwei Teller, in jeder Hand einen, den ersten stellt sie hin, den zweiten hat sie längst vergessen. Sie lässt ihren Arm baumeln und der Teller zerschellt auf dem Boden. Kleine Unaufmerksamkeiten, Aussetzer in Köpplingers Gehirn. Für manche bloß Anekdoten, für die Fürstenfeldbruckerin Hinweise auf ihre Krankheit. Vieles fällt Köpplinger schwerer. Sei es dadurch, dass sie viel öfter und unmittelbar auf die Toilette muss, da ihre Blase nichts mehr hält. Oder dadurch, dass sie oft gezwungen ist, ihre Lebensmittel online einzukaufen, wo der Mindestbestellwert bei 40 Euro liegt, weil sie nicht immer den Rollstuhl oder den Rollator benutzen kann. Es falle ihr schon schwer, länger als eine halbe Stunde mit dem Rollstuhl unterwegs zu sein. Sie muss ihn anschieben, ihr rechter Arm ist jedoch seit der Geburt des Sohnes teilweise gelähmt. Eine Depression erschwert ihr zusätzlich seit vielen Jahren ihre Situation.

Doch die bei weitem schlimmste Einschränkung für die 35-Jährige ist der Vezicht auf ihren Sohn. "Die Entscheidung, dass er zu meinem Ex-Mann zieht, ist uns allen unheimlich schwer gefallen", so Köpplinger. Selber zu ihm fahren kann sie auch nicht: Die MS schränkt ihr Sichtfeld ein, Autofahren darf die Fürstenfeldbruckerin nicht mehr. Versteht der Sohn, was die MS mit ihrer Mutter macht? Köpplingers Augen füllen sich mit Tränen. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen. Dann fasst sie sich und sagt: "Es fällt mir normalerweise sehr schwer, meine Maske fallen zu lassen und zu zeigen, wie es mir wirklich geht." Trotzdem entschied sie sich für den Weg in die Öffentlichkeit - weil sie seit Jahren immer wieder an derselben Hürde scheitert: Köpplinger kämpft vergeblich darum, dass die Techniker Krankenkasse und der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) ihr einen Pflegegrad attestieren.

Köpplinger ist auf einen elektrischen Fußheber angewiesen. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Als sich die ersten Anzeichen häuften, die Sehschwäche, der schlapp herabhängende Fuß, die Zittrigkeit, die Konzentrationsstörungen, häuften sich für Köpplinger auch die Arztbesuche. Im August 2016 wurde dann zunächst Rheuma bei ihr festgestellt. Ihr schoss gleich ein unangenehmer Gedanke durch den Kopf: "Wenn das mal nicht eine MS wird." Und als dann die MS-Diagnose im Oktober desselben Jahres kam, habe sie es schon geahnt. "Ich habe es einfach so hingenommen", sagt Köpplinger, ihre Gesichtszüge versteinern sich.

Die Bewilligung eines Pflegegrads hängt jedoch nicht von der Diagnose ab. Nach einem Antrag des Patienten beauftragt die Krankenkasse den MDK, den Antragsteller bei ihm zu Hause zu besuchen und die Schwere des möglichen Pflegefalls zu beurteilen. Diese Begutachtung habe Köpplinger bereits drei Mal durchlaufen. Jedes Mal sagte man ihr danach: null Punkte. Antrag auf Pflegegrad-Bewilligung abgelehnt. Jedes Mal legte sie Widerspruch ein, dann ging das Spiel von vorne los, wieder null Punkte. Der nächste Schritt wäre ein Gerichtsverfahren. Aber das schaffe sie körperlich und psychisch nicht, sagt Köpplinger. Außerdem könne sie es nicht nachvollziehen, warum sich der MDK dagegen sträubt, ihr einen Pflegegrad zu bewilligen. Die Einschränkungen seien doch offensichtlich. Also stellte sie einen neuen Antrag. Ein Gutachter kommt an diesem Freitag erneut zu ihr nach Hause.

"Ja, die Betroffene hat immer wieder vorübergehende Einschränkungen", räumt der Fachberater für Pflegebegutachtung Rolf Scheu vom MDK ein. Aber für eine Bewilligung eines Pflegegrades fehle es an einem Beweis, dass Köpplinger dauerhaft über mindestens sechs Monate eingeschränkt ist. Zudem gebe es bestimmte Vorgaben, die der Gesetzgeber festgelegt hat und die für die Bewilligung eines Pflegegrades erfüllt sein müssen. Die Gutachter folgen einer Liste mit sechs Modulen und notieren: Kann der Patient alleine aus dem Bett aufstehen? Fällt es ihm schwer, sich selbst anzuziehen? "Es geht darum, festzustellen, ob sie von einer Pflegeperson abhängig sind, oder nicht", erklärt Scheu. Ob Köpplinger außerhäusliche Aktivitäten noch machen kann, wie spazieren gehen oder ihren Sohn besuchen, oder ob die 35-Jährige auf ihren Beruf verzichten musste und ihre Einkäufe vom Computer aus erledigen muss - darauf kann der MDK keine Rücksicht nehmen. "Ich kann verstehen, dass sie sich ungerecht behandelt fühlt, aber sie stößt an die Grenzen des Gesetzes", sagt Scheu. Ob das gerecht ist? Scheu sagt, das sei eine philosophische Frage. "Hier müsste eine gesellschaftliche Diskussion geführt werden."

© SZ vom 11.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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