Süddeutsche Zeitung

Serie: SZ-Schulratgeber:"Zu viele gehen an weiterführende Schulen"

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Die Germeringer Rektorin Claudia Frisch sieht den großen Ansturm auf Realschule und Gymnasium skeptisch. Mancher Schüler könne an der Mittelschulen besser sowie individueller gefördert werden.

Interview Von Stefan Salger, Germering

Kaum kann das Kind das große Einmaleins, bekommen viele Eltern auch schon den Tunnelblick. Am Ende der Röhre sind meistens lediglich zwei Schularten zu sehen: Gymnasium und Realschule. Von einer Mittelschule ist nicht viel zu sehen. Klar, wenn die Viertklässler den Notenschnitt für den begehrten Übertritt an die weiterführenden Schulen nicht schaffen, dann landen sie ja automatisch auf der Einrichtung, die sich früher Hauptschule nannte und manchmal als Restschule verunglimpft wird. Doch die ist besser als ihr Ruf. Claudia Frisch, Rektorin der Kerschensteinerschule in Germering, wird nicht müde, auf Pluspunkte wie Klassleiterprinzip, Berufsorientierung oder geringere Klassenstärken hinzuweisen.

SZ: Werden in der vierten ganz entscheidende Weichen fürs ganze Leben gestellt?

Claudia Frisch: Nein, so kann man das eben nicht sagen. Ich bin mit dem bayerischen Schulsystem in einigen Punkten gar nicht zufrieden. Aber durchlässig ist es sehr wohl. Es gibt 13 verschiedene Schularten und eine Vielzahl von Verbindungen. Leider sind viele Eltern sehr stark auf Realschule oder Gymnasium fixiert. Ich verstehe das ja einerseits, jeder will das Beste für sein Kind und immer wieder bekommen sie zu hören, wie wichtig Bildung in unserer Gesellschaft ist. Aber auch die Mittelschulen haben da eine wichtige Funktion. Und den Kindern ist nicht damit gedient, wenn die Latte zu hoch gelegt wird. Um in der Sprache des Sports zu bleiben: wenn der Anlauf viel Energie kostet und die Latte mehrmals gerissen wird, dann verliert man schon mal ganz die Lust. Und trotzdem gehen zu viele Kinder auf weiterführende Schulen.

Welche Vorteile bietet denn die Mittelschule?

Zum einen gibt es dort das Klassleiterprinzip. Die Schüler haben viel Kontakt zu einer Bezugsperson. Und wenn ich mir hier die Realschule ansehe, dann haben es unsere Kinder auch deshalb gut, weil sie einen eigenen festen Raum haben, in dem sie sich in gewisser Weise zu Hause fühlen können. Das kann für einige ein wichtiger Aspekt sein. Die Kerschensteiner Schule ist mit 450 Kindern relativ groß, aber das ist nichts gegen die oft mehr als tausend Schüler an den Realschulen und Gymnasien. Und wir haben Klassenstärken von durchschnittlich 21 Schülern. Zwei neunte Klassen werden sogar nur von jeweils 16 Jugendlichen besucht.

Wie unterscheidet sich der Lehrplan?

Wir setzen andere Schwerpunkte. Vermittelt wird Basiswissen in Fächerkombination wie PCB, also Physik, Chemie und Biologie, oder in GSE, also Geschichte, Sozialkunde und Erdkunde. Jeweils zwei bis drei Stunden wöchentlich werden da Grundlagen geschaffen. Von der achten Klasse an gibt es vier Schulstunden am Stück in einem der Bereiche Soziales, Technik oder Wirtschaft. Da bleibt man auch mal längere Zeit bei einem Thema. Insgesamt wird der Berufsorientierung ein hoher Stellenwert beigemessen.

Welche Erfahrungen haben sie mit Eltern und Kindern gemacht in der Phase des Übertritts?

Es gibt schon auch Eltern, die sehr vernünftig mit dem durchaus vorhandenen Druck umgehen. Aber letztlich soll ihr Kind doch meistens an eine weitere Schule. Als mein eigener Sohn trotz des Notenschnitts von 2,0 an der Mittelschule bleiben wollte, wurden wir schon komisch angeschaut.

Viele Schüler kehren nach dem Übertritt wieder an die Mittelschule zurück . . .

. . . und schaffen hier zu 98 Prozent einen Abschluss. Das ist eine Erfolgsgeschichte. Und das, obwohl sich viele zunächst als Loser fühlen und ein ziemlich angeknackstes Selbstwertgefühl haben. Jahr für Jahr kommen um die 30 Schüler aus der Realschule zurück und wechseln fast ausnahmslos in den M-Zweig der Mittelschule. Direkt vom Gymnasium kommen nur sehr wenige, manche aber über den Zwischenschritt Realschule dann letztlich doch. Die in diesem Punkt meines Erachtens realitätsfremde Schulordnung lässt einen Wechsel eigentlich erst immer zum Schuljahresende zu. Aber es bringt ja nichts, wenn ein Schüler die Zeit an einer Schule absitzen muss, an der er nicht zurechtkommt. Es gibt aber auch Fälle, da sträuben sich Schüler gegen die Realität. Kürzlich war ein 14-Jähriger mit seinen Eltern bei mir. Der hatte zwei Sechser und mehrere Fünfer im Zwischenzeugnis und wollte trotzdem nicht auf die Mittelschule. Solche Schüler stehen manchmal stark unter dem Einfluss von Freunden oder Verwandten, die große Vorbehalte gegen die Mittelschule haben.

Wann kommen die meisten Rückkehrer?

In den höheren Klassen. 2014 war es so, dass im März 25 Schüler unsere M9 besuchten, im September waren es dann auf einmal 44. In den unteren Klassen gibt es kurz vor Weihnachten den ersten Wechsel. Das liegt an den Probezeiten in den weiterführenden Schulen, die am 1. Dezember enden.

Sie sprachen von Erfolgsgeschichten. Gibt es Beispiele?

Mir fällt da vor allem ein Schüler ein, der vom Gymnasium in unsere M10 gewechselt ist. Der war ein Jahr bei uns, hat dann die Mittlere Reife gemacht und ist 2011 auf die Fachoberschule gewechselt. Nach dem Fachabitur hat er mit einem Informatikstudium angefangen, dieses dann aber 2014 abgebrochen, weil er eine eigene Firma gegründet hat. Von 2012 bis 2014 war er auch an unserer Schule Systembetreuer. Kürzlich hat er uns hier besucht. Ich glaube schon, dass er die Mittelschule in sehr guter Erinnerung hat.

Dennoch hat diese bekanntermaßen ein Imageproblem. Hat die Umbenennung der früheren Hauptschule in die Mittelschule überhaupt etwas gebracht?

Schwer zu sagen. Unsere Schule wächst. Aber das dürfte weniger an den nun möglichen Schulverbünden liegen oder an einer gestiegenen Attraktivität. Wir wachsen wegen der bereits angesprochenen Rückkehrer. Wir starten mit kleinen fünften Klassen. Das liegt auch daran, dass die weiterführenden Schulen ihre Aufnahmehürden gesenkt haben. Das ist politisch so gewollt.

Von der siebten Klasse an wird es dann immer voller. Vor sieben Jahren, als ich hier die Schulleitung übernommen habe, waren es 356 Schüler, heute sind es fast hundert mehr.

Was würden Sie sich wünschen für die Mittelschule, um nicht mehr als Restschule wahrgenommen zu werden?

Wir bräuchten mehr Unterstützung für Verhaltensauffällige. Das sind nur sehr wenige Schüler, aber die prägen bei manchem das Bild. Wir sind ja auch eine Art Auffangbecken. Im Gegensatz zu anderen Schularten können wir niemanden ablehnen , der noch schulpflichtig ist. Grundsätzlich müssen wir den Beruf des Mittelschullehrers attraktiver machen. Das fängt bei der Bezahlung an, erfordert aber auch ein Umdenken in der Gesellschaft.

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Quelle:
SZ vom 10.03.2015
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