Schöngeising:Warum Bambi sterben muss

Das Werk der Schöngeisinger Dokumentarfilmerin Alice Agneskirchner über die Jagd läuft demnächst auf Arte

Von Peter Bierl, Schöngeising

Für den Klimaschutz und wegen der Massentierhaltung müssen ein Braten, ein Schnitzel oder ein Burger pro Woche reichen. In begrenztem Maße wäre Wild eine Alternative, allerdings genießt die Jagd keinen guten Ruf. Für Veganer gilt ohnehin, dass Fleisch Mord ist, der Normalverbraucher schreckt eher beim Gedanken an ein totes Bambi zurück. Dieser Widerspruch war für Alice Agneskirchner Anlass, sich mit der Jagd und dem Jäger zu beschäftigen. Herausgekommen ist ein Kinofilm, "Auf der Jagd - Wem gehört die Natur?", der viele Diskussionen mit dem Publikum sowie zwischen Jägern, Naturschützern, Bauern ausgelöst hat. Das Werk der Dokumentarfilmerin aus Schöngeising lockte 2018 rund 50 000 Zuschauer in die Kinos und war damit auch kommerziell ein voller Erfolg. Am Mittwoch, 15. Januar, wird der Film nun auf Arte gezeigt.

Agneskirchner wurde 1966 in München geboren und wuchs in Sendling, Neuperlach und am Tegernsee auf. Nach dem Abitur zog sie nach Schöngeising und studierte in München Theater- und Politikwissenschaft sowie Volkskunde. Irgendwann zog es sie vom Theater zum Film. Im Fernsehen sah Agneskirchner 1988 den Film "Zwei Deutsche", in dem die DDR-Regisseurin Gitta Nickel das Leben zweier Menschen in West und Ost verglich. Sie war so hingerissen, dass sie an der Filmhochschule Babelsberg studieren wollte. Ein schwieriges Unterfangen, weil die Mauer noch stand. Agneskirchner schrieb an Lothar Bisky, damals Rektor der Hochschule, und erhielt immerhin die Einladung zu einem Gastaufenthalt, den sie im Frühjahr 1989 antrat. Zurück in München absolvierte sie ein Praktikum bei der Süddeutschen Zeitung. Während sie noch überlegte, wie sie in die DDR kommen könnte, löste sich der Staat auf.

Fotos zur Jagd

Agneskircher begleitete Jäger bei Wind und Wetter mit der Kamera.

(Foto: Broadview Pictures)

1990 begann sie ihr Studium in der Regieklasse in Babelsberg und bekam den Umbruch hautnah mit. "Jedes Mal, wenn ich zurück nach Bayern kam, hat mich überrascht, dass die Leute hier nicht verstanden, dass bei den Menschen dort das Gefühl der Übernahme aufkam", erzählt sie. Sechs Jahre später legte sie die Prüfung als Diplomregisseurin ab. Ihr Abschluss- und zugleich Debütfilm "Raulien's Revier" handelte vom Arbeitsalltag eines Kontaktbereichsbeamten im Duisburger Viertel Burghausen und war gleich ein Erfolg insofern, als das Werk auf rund 50 Festivals gezeigt wurde.

Seitdem arbeitet Agneskirchner als selbständige Dokumentarfilmerin und pendelt zwischen Schöngeising und Berlin. Mal arbeitet sie direkt für Fernsehsender, oft auch zusammen mit Produktionsfirmen, der Filmförderung und Sendern. Aus ihrer zehnköpfigen Regieklasse ist sie als einzige Selbständige übrig geblieben. "Es ist kein leichtes Geschäft, man muss es aushalten", sagt sie. Denn bevor die Dokumentarfilmerin daran gehen kann, eine Idee umzusetzen, braucht sie eine finanzielle Förderung, muss einen Produzenten, einen Sender, eine Redaktion überzeugen. Bei dem Jagdfilm dauerte die Überzeugungsarbeit vier Jahre, anfangs wandten sich die Redakteure mit Grausen ab. Die erste Frage habe stets gelautet: Wird ein Tier erschossen?

Fotos zur Jagd

Ohne die Regulierung des Bestandes durch die Jagd würde das Rotwild, also die Hirsche, höchstwahrscheinlich ausgerottet.

(Foto: Broadview Pictures)

Ähnlich kompliziert verhielt es sich bei ihrem jüngsten Projekt, das davon handelte, wie "Holocaust ins Fernsehen kam" und mit welcher Wirkung. Die amerikanische Serie war 1979 in der Bundesrepublik ein Straßenfeger, der hitzige Debatten auslöste, aber die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Deutschen deutlich vertiefte, weil deren Dimension anhand der Familiengeschichte der Familie Weiß greifbar wurde. Neonazis sprengten sogar einen Sendemasten, um die Ausstrahlung zu verhindern.

Da Journalisten auf Jahrestage versessen sind, hätte man annehmen können, dass Agneskirchners Idee für eine Doku vierzig Jahre nach der Erstausstrahlung sofort einschlagen würde, aber Fehlanzeige. Erneut waren die Bedenken bei Redaktion und Sender groß, zumal die Dokumentation zusammen mit der kompletten Serie, die immerhin acht Stunden dauert, gezeigt werden muss, die ARD aber dafür erst wieder die Rechte einkaufen musste. Im Januar 2019 wurde das Paket ausgestrahlt, wiederum mit Erfolg.

Fotos zur Jagd

In dem Film sind auch Algonquin-Frauen in Kanada auf der Pirsch zu sehen.

(Foto: Privat)

Die Idee dazu war der Dokumentarfilmerin bei einem anderen Projekt gekommen und zwar schon 2013. Damals drehte sie einen Film mit dem Titel "Ein Apartment in Berlin". Er zeigt, wie drei junge Israelis eine Wohnung einrichten, die einst von den Deutschen "arisiert" worden war. Agneskirchner war auf eine sogenannte Vermögensverwertungsakte des Berliner Finanzamts gestoßen, in der das Inventar verzeichnet war. Sie machte die überlebenden Nachkommen der Familie in Israel ausfindig und wählte drei Israelis aus, nicht mit der Familie verwandt, aber alle selbst Nachkommen von Überlebenden der Shoah.

Dieser Film war sehr "arrangiert", sagt Agneskirchner, im Gegensatz zu ihrem Erstling von 1995, als sie sehr puristisch das Konzept des "direct cinema" vertreten habe, des filmischen Begleitens ohne jeden Eingriff. Damals rebellierte ihr Kameramann, so dass Agneskirchner manchmal im Anschluss an eine Szene noch eine Frage an den Protagonisten richtete. Daraus entwickelte sich ihr Stil des "teilnehmenden Begleitens" mit gelegentlichen Fragen bei laufender Kamera.

Auf der Jagd

Alice Agneskirchner hat einen Dokumentarfilm gedreht, der manche Mythen und Vorurteile über die Jagd und die Jäger widerlegt.

(Foto: Günther Reger)

Treu geblieben ist sie dem Anspruch, genau auf die Welt zu schauen, aber nicht auf die Dinge, die vordergründig zu sehen sind. Und sie hat den Anspruch der Authentizität. Für den Film über die arisierte Wohnung wählte Agneskirchner per Castingaufruf unter etwa 400 Menschen aus, bei den Jägern waren es an die 300 Personen, die sie über Mundpropaganda und auf Jagdmessen kontaktierte. "Das wichtigste ist, dass die Menschen vor der Kamera bei sich bleiben, ihre Geschichte erzählen, aber nicht anfangen zu schauspielern", erklärt Agneskirchner.

Deshalb arbeitet sie gerne mit einem kleinen Team, zu dritt mit Kameramann und Tontechnikerin, um die Protagonisten so wenig wie möglich zu beeinflussen. Die ersten Aufnahmen für den Jagdfilm drehte sie in Brandenburg, aber dort brächten die Leute "die Zähne nicht auseinander". Also nutzte Agneskirchner persönliche Kontakte und Dialektkenntnis und wechselte ins Tegernseer Tal.

Der Film zeigt, dass Jagd bei uns nicht bloß das Vergnügen einiger Reicher ist. Die Abschussquoten geben die Behörden vor. Der Wald, in Deutschland seit der Romantik mit völkischen Mythen überladen, ist nicht unberührte Natur, die allen gehört, sondern ein Wirtschaftsfaktor. Wildverbiss wiederum zerstört nicht den Wald, führt aber dazu, dass Bäume nicht so schön gerade wachsen, wie die Industrie sie braucht, sondern krumm. Ohne die Regulierung des Bestandes durch die Jagd würde das Rotwild, also die Hirsche, höchstwahrscheinlich ausgerottet, vermutet Agneskirchner - zu sehr würden sie bei unkontrollierter Vermehrung der Land- und Forstwirtschaft in die Quere kommen. Das Fleisch von Wildtieren kann man demnach getrost verzehren.

"Auf der Jagd - Wem gehört die Natur?" läuft am Mittwoch, 15. Januar, um 21.40 Uhr auf Arte

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