Puchheim:Vom Leben am Rande

NJE Puchheim

Wie es ist, auf der Straße zu leben, erzählt Uwe Hinsche (Mitte) beim Puchheimer Neujahrsempfang im Gespräch mit Jean-Marie Leone und Petra Weber.

(Foto: Günther Reger)

Uwe Hinsche war ganz unten. Davon erzählt er der SPD in Puchheim

Von Manfred Amann, Puchheim

Den Rückenwind, den die Sozialdemokraten durch die Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten sehen, will auch der SPD-Ortsverein Puchheim im Wahlkampf nutzen. Doch selbst wenn der Wähler Politik eher mit Persönlichkeiten in Verbindung bringe, sollte die Partei ihre Wertvorstellungen wie soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit deutlich in den Vordergrund rücken, riet Puchheims Bürgermeister Norbert Seidl, als er für die erkrankte Ortsvorsitzende Marga Wiesner am Freitagabend in der Schule Süd knapp 100 Genossen und Freunde zum Neujahrsempfang begrüßte.

Um vor Augen zu führen, dass es auch in der Wohlstandsgesellschaft Menschen gibt, die arm und ausgegrenzt leben "und keine Lobby haben", wie Seidl sagte, hatte der Ortsverein den langjährigen Mitarbeiter des Münchner Vereins Biss, Uwe Hinsche, eingeladen. Unverkrampft, freimütig und schnörkellos erzählte der gebürtige Dessauer, dass er bald nach seiner Geburt 1955 mit Mutter und sieben Geschwistern in den Westen kam, auf Betreiben eines Jugendamtes im Heim aufwuchs, nach einer Schreinerlehre zwei Jahre als Zeitsoldat diente, schließlich heiratete und eigentlich in einer guten Beziehung mit Kind gelebt habe, "bis dann der Absturz kam". Er habe damals Hochleistungs- und Kampfsport betrieben, denn seine Erfolge hätten ihm ein hohes Maß an Selbstbestätigung beschert. "Das war mir so wichtig, dass ich die Familie vernachlässigte", gestand Hinsche, dann sei die Scheidung gekommen, er sei dem "Suff verfallen" und letztlich auf der Straße gelandet.

Als Obdachloser sei er nach München gegangen und als er keinen Ausweg mehr gesehen habe, habe er 1990 den Freitod gesucht. "Nach meiner Rettung hat es da oben Klick gemacht und ich habe mich für einen kalten Entzug entschieden und danach viel Glück gehabt", sagte Hinsche, vor allem, weil er bei der Stiftung Biss, dem Zeitungsprojekt, das Bürgern in sozialen Schwierigkeiten hilft, sich selbst zu helfen, eine Heimat gefunden habe: erst als Zeitungsverkäufer und heute als Verkäuferbetreuer und Verkaufskoordinator in fester Anstellung.

Die Zahl der Obdachlosen wird laut dem Puchheimer Stadtrat Jean-Marie Leone in Deutschland auf 40 000 geschätzt - 60 Prozent mehr als im Jahr 2010 -, worauf Hinsche anmerkte, dass sich viele "aus Scham und geplagt von Selbstvorwürfen, versagt zu haben", gar nicht melden würden. Aktuell beschäftigt die Stiftung Biss, die sich aus Spenden und Patenschaften finanziert, etwa 100 Zeitungsverkäufer, die den halben Verkaufspreis und das Trinkgeld behalten dürfen und laut Hinsche meist damit über die Runden kommen. Ziel der Stiftung sei es, den Menschen wieder eine Perspektive zu bieten und ihnen so die Rückkehr in die Gesellschaft zu erleichtern. Auf die Seidls Frage, was er von einer gerechten Gesellschaft erwarte, wünschte sich Hinsche, "dass vom Schicksal gebeutelte Menschen nicht allein gelassen werden". Die SPD sollte das ernst nehmen und sich auf ihre Kernkompetenzen besinnen, befand dazu Benjamin Schemel. Um von den 14 Prozent in Bayern wegzukommen, forderte der Stadtrat obendrein von seiner Partei, mit Visionen in den Wahlkampf zu ziehen und vor allem "tierisch zu nerven" und Populisten keine Chance zu lassen.

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