Psychologie:"Weihachten ist eine Grundfeste"

Ausstellung Grafrath

Der Zauber von Weihnachten, ausgedrückt in einer Krippenarbeit, ist oft schon an Heiligabend schnell verflogen.

(Foto: Günther Reger)

Das Fest der Liebe und Familie gerät oft zum Stressfaktor. Das muss aber gar nicht sein: Ein SZ-Gespräch mit zwei Psychologen über emotionale Abläufe.

Interview von Ariane Lindenbach, Fürstenfeldbruck

Die ersten Lebkuchen Ende August, Weihnachtsbeleuchtung bereits vor dem ersten Advent: Alle Jahre wieder beginnt schon lange vor Weihnachten all der Rummel, der um das höchste Fest des Christentums gemacht wird. Und er wird immer mehr. Doch was ist mit jenen Leuten, die aus verschiedensten Gründen Weihnachten nicht feiern können oder wollen? Ist es überhaupt möglich, sich dem Weihnachtszauber zu entziehen? Darüber sprach die SZ mit Nicolay Marstrander, 50, Chefarzt des Isar-Amper-Klinikum Fürstenfeldbruck und seiner Kollegin Susanna Triantafillou, 32, Psychologin und Psychotherapeutin.

SZ: Frau Triantafillou, Herr Marstrander, unter psychologischen Aspekten betrachtet: woher kommt die Faszination, der Zauber und nicht zuletzt auch der ganze Stress, den wir in unseren Breiten mit Weihnachten verbinden?

Nicolay Marstrander: Weihnachten bedeutet für viele gemeinsames Beisammensein, Besinnlichkeit und Familienzeit. Ich denke, die Menschen suchen und brauchen eine Grundstruktur. Das hat unterschiedliche Ebenen und Aspekte. Einer davon ist, dass wir bestimmte Rituale haben, die uns eine Struktur und einen Inhalt geben. Solche Grundfesten sind ein wichtiger Teil in unserer sozialen- Verankerung und ein solches Ritual ist eben Weihnachten, das ein Stück weit auch wie ein Taktgeber funktioniert.

Psychologie: Weihnachtsfeier als eine emotionale Herausforderung: Chefarzt Nicolay Marstrander und Psychologin Susanna Triantafillou

Weihnachtsfeier als eine emotionale Herausforderung: Chefarzt Nicolay Marstrander und Psychologin Susanna Triantafillou

(Foto: Voxbrunner Carmen)

Welche Emotionen stehen mit Weihnachten in Verbindung?

Marstrander: In anstrengenden, stressigen und anspruchsvollen Zeiten sehnen wir uns nach Ruhe und Geborgenheit, Friede und Wärme. Und Weihnachten ist emotional ganz eng mit sehr ursprünglichen, familienbezogenen, sorglosen, warmen und meist schönen Momenten verbunden. Unsere menschliche Psyche generiert, sammelt und verdichtet Erinnerungen, eng mit Emotionen verknüpft. Ich denke, vor allem für Kinder ist Weihnachten überwiegend mit positiven Emotionen verbunden, weshalb wir es alle in unserer Erinnerung als etwas sehr Positives gespeichert haben. Mit der Brille von heute betrachtet, würde man möglicherweise den damals oft damit verbundenen Stress auch sehen.

Klingt unlogisch, dass die eigenen Emotionen etwas ganz anderes vermitteln als es uns der Verstand sagt?

Susanna Triantafillou: Da zeigt sich, dass Verstand und Gefühl teils unabhängig voneinander betrachtet werden müssen. Als Kind nimmt man Weihnachten eher als etwas Positives war, weshalb wir hauptsächlich diese angenehmen Gefühle mit Weihnachten assoziieren. Aus den Erfahrungen der Kindheit entsteht für viele Erwachsene die Erwartung, das Weihnachtsfest müsse etwas ganz Besonderes, Positives sein, wodurch sich dann der Weihnachtsstress entwickelt. Wenn man sich von dieser Erwartungshaltung frei macht und Weihnachten einfach als Ritual erlebt, auf das man sich immer wieder besinnt, kann es etwas sehr Schönes sein. Wenn man sich genauer Gedanken über Weihnachten macht, klingt es ein wenig konstruiert, Aber es ist gut, wenn man einmal im Jahr dieses Ritual hat, wodurch man sich auf das Positive besinnt - vor allem auch auf das, was einen verbindet.

Wenn Weihnachten also generell erst einmal mit positiven Erinnerungen assoziiert wird, weshalb gibt es dann an den Feiertagen so häufig familiäre Konflikte?

Marstrander: Die Gefahr besteht darin, dass diese Struktur überfrachtet wird - mit Erwartungen, alten Themen und mit Materiellem, was auch wieder zu aversiven Emotionen und entsprechendem Verhalten, also Gegenreaktionen und Anspannung führt.

Wie stark trägt die Werbung dazu bei, dass die Erwartungen immer höher werden und dadurch auch der Druck wächst?

Triantafillou: Das spielt eine große Rolle. Vor allem für den Part des Schenkens. Ich habe das Gefühl, dass in der Vorweihnachtszeit immer mehr Rabattaktionen im Einzelhandel angeboten werden. Dabei entsteht schnell Druck für jeden einzelnen, etwas zu einem perfekten Fest mit ganz tollen Geschenken beizutragen.

Marstrander: Das ist natürlich für die Industrie auch eine Steilvorlage, nach dem Motto: Es sind wirtschaftlich gute Zeiten, und jetzt gönnen Sie doch Ihren nächsten Verwandten das schönste Geschenk, das Sie sich vorstellen können. Es entstehen Phänomene wie Black Friday, wo der Konsum noch einmal angekurbelt wird. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft mit dem Gefühl, zum Wachstum verdammt zu sein. Dadurch stecken wir in diesen Mechanismen drin. Ich glaube, wir tun uns alle schwer, uns davon zu entkoppeln.

Es gibt aber auch diejenigen, die den ganzen Weihnachtsrummel vehement ablehnen. Was machen die?

Weihnachtsshopping auf der Zeil

Sonderangebote können Konsumenten in der Vorweihnachtszeit zusätzlich unter Druck setzen.

(Foto: dpa)

Marstrander: Wenn ich im Dezember spontan versuche, mich dem ganzen Weihnachtsrummel zu entziehen, etwa weil ich mich mit einem Teil der Familie verkracht habe: Damit mir das gelingt, muss ich ein neues Konzept für mich und meine Familie über Weihnachten entwickeln. Alleine kann einem das nur schwer gelingen, immerhin werden aus der Familie und dem Umfeld auch andere Erwartungen an jeden herangetragen

Triantafillou: Rituale und Gewohnheiten - und dazu gehört ja auch ein Stück weit dieser Weihnachtsrummel - sind wichtig für jeden Menschen und jede Gesellschaft. Aber jeder Einzelne sollte gelegentlich prüfen, ob die alten Gewohnheiten noch zum aktuellen Lebensumstand passen.

Kennen Sie die Thematik aus Ihrer Arbeit, dass Personen Weihnachten nicht feiern wollen und wie schwierig das ist?

Marstrander: In den letzten Sitzungen vor Heiligabend ist es eigentlich üblich, dass man sich als Arzt auch mit seinen Patienten über die Gestaltung der Feiertage unterhält. Eine Patientin berichtete, dass sie in ihrer Familie bewusst gar kein Weihnachten feiern. Es gibt nichts Besonderes zum Essen, keine Geschenke et cetera. Sie berichtete, wie schwer es ist, sich dem Ganzen zu entziehen. Denn du hast die vielen Feiertage, im Fernsehen läuft permanent etwas Weihnachtliches. Etwas Schönes essen, das geht dann auch nicht, weil sie ja kein Weihnachten feiern wollen. Mir wird dabei aber klar, dass das in unserer Zeit auch ganz schön kompliziert ist. Die normalen Abläufe und gesellschaftliche Aktivitäten kommen dann komplett zum Stillstand.

In gewissen, meist stark der Natur verbundenen Kreisen kann man eine Abkehr beobachten: Es gibt immer mehr, die bewusst auf Geschenke und Konsumterror verzichten, nur noch Freunde treffen und gut essen.

Marstrander: Die Frage ist, ob das wirklich so ist oder ob nur alle darüber reden. Es heißt, man philosophiert drüber, nichts zu schenken. Der Anteil von denen, die wirklich verzichten und nichts schenken, ist aus meiner Einschätzung relativ gering.

Triantafillou: Ich glaube, dass viele Menschen gerne frei von diesen ganzen Verpflichtungen und Zwängen und Auferlegungen wären. Aber dass wir in vielen Belangen nicht so frei sind und von einer Dynamik erfasst werden, wo es sehr schwer ist, sich dagegen zu stemmen. Die zu erfüllenden Erwartungen begegnen einem an jeder Straßenecke.

Warum gibt es eigentlich an Weihnachten so viele Eklats in den Familien?

Marstrander: Die Weihnachtszeit ist in vielen Familien anspruchsvoll, weil plötzlich eine heile Welt zusammengefügt werden muss, die vielleicht nicht immer so heil ist, da Konflikte bestehen. Und an Weihnachten unterwerfen wir uns alle der Verpflichtung, so zu tun als ob. Das erlebe ich oft im Gespräch mit Patienten: Nicht die Frage "Wie viel Geld kostet mich die Bratpfanne für meine Schwiegermutter, sondern wie viel Anstrengung kostet es mich, die Pfanne nicht auszupacken, um meine Schwiegermutter damit zu erschlagen?" - das ist für die Menschen eine große Herausforderung. Der ganze Weihnachtsrummel löst in den Familien viel Druck aus: "Sind die Geschenke gerecht verteilt?" oder "Wurden meine Wünsche berücksichtigt?"Geschenke können ja auch wieder zu Verwicklungen führen, wenn sich jemand nicht genug wertgeschätzt fühlt.

Triantafillou: Oft hat das ja auch mit Konflikten zu tun, die nicht richtig aufgearbeitet wurden und die dann wieder hochkochen. Bei lang andauernden, älteren Konflikten ist es natürlich schwierig, sie an den Weihnachtsfeiertagen zu lösen.

Soll man das vorher klären?

Triantafillou: Das kommt auf die Erwartungen an: Will man ein ganz harmonisches Weihnachtsfest oder geht es darum, zusammen zu sein trotz der bestehenden Konflikte?

Marstrander: Man sollte vorher entscheiden: Will ich ein Großreinemachen haben oder will ich ein familiär betontes Weihnachten? Das heißt, ich entscheide mich emotional. Schwierig wird es immer dann, wenn ich beides möchte - Harmonie haben und gleichzeitig Konflikte lösen.

Und was mache ich, wenn ich mich für die Harmonie entschieden habe und andere aus der Familie wollen mit mir einen alten Konflikt lösen?

Marstrander: Man kann das ja kommunizieren. Zum Beispiel: "Wir haben in dem Jahr viel gestritten. Ich will aber, dass wir als Familie ein vernünftiges Weihnachten zusammen haben".

Triantafillou: Das heißt ja nicht, dass man alles wegschieben und verdrängen muss.

Man kann die Konfliktlösung also auch auf später vertagen?

Marstrander: Die Schwierigkeit entsteht durch fehlende innere Klarheit. Dann gehe ich mit einem Emotionsmix und innerer Anspannung in die Weihnachtsfeier. Auf der einen Seite steht die Sehnsucht nach heiler Familie, all den schönen Erinnerungen an das frühere Weihnachten. Auf der anderen Seite eine tiefe Anspannung durch ungelöste Konflikte. Diese entstehen vielleicht auch dadurch, dass ich Angst habe, dass der Konflikt ausbricht und zusätzlich die Anspannung, dass ich rechtzeitig das Essen fertig kriegen und alles schaffen muss und in der Arbeit war es viel. Wenn dann an Weihnachten noch Alkohol getrunken wird, kann es ungemütlich werden und die Situation kann explodieren.

Für viele Familien ist es zudem die einzige Zeit im Jahr, wo alle zusammenkommen. Wenn dann hohe Erwartungen mit nicht geklärten Konflikten zusammentreffen, ist das schon eine explosive Basis.

Marstrander: Ja, und wir üben diese engen sozialen Strukturen nicht mehr so häufig aus. Wenn man weiter zurückgeht, da waren alle in einer Stube - da mussten wir jeden Tag aufs Neue üben, in engen sozialen Strukturen zurecht zu kommen. Aber man muss gar nicht so weit zurückgehen. Wir beobachten, wie eine Zersplitterung der Familienstrukturen in den urbanen Großgebieten stattfindet, mit einer Scheidungsrate von über 50 Prozent, weit mehr als im ländlichen Raum. Wir haben Phänomene, dass Menschen mitten in großen Wohnsiedlungen vereinsamen, was auf dem Land so nicht gegeben ist. Beziehung heißt ja auf familiärer wie partnerschaftlicher Ebene, dass auch Konflikte ausgetragen werden können, ohne dass die Beziehung gleich zerbricht.

Das heißt im Umkehrschluss, der Großstadtmensch trainiert trotz sozialer Netzwerke den Umgang untereinander nicht mehr genug?

Marstrander: Im sozialen Miteinander, dem Kern der Großfamilie, ist der Großstadtmensch nicht mehr so geübt. Das kann man zum Beispiel an einer Entwicklung beobachten: Vor 20 Jahren noch waren in Großstädten wie München an Heiligabend und dem erstem Weihnachtstag die Kneipen geschlossen. Wenn Sie jetzt durch München gehen, finden sie genügend Kneipen und Bars, wo die Post abgeht. Weil die Menschen sich emotional von familiären Verpflichtungen entkoppeln. Die Frage ist, ob das eine gute Entwicklung ist.

Wir werden also immer individueller?

Marstrander: Unsere gesellschaftliche Entwicklung unterliegt in den letzten 20 Jahren ganz klar einer Individualisierung. Und das ist eine Riesenherausforderung für uns, denn es wird keine Gesellschaft funktionieren, in der wir einfach nebeneinander her leben.

Das ist allerdings keine sonderlich weihnachtliche Entwicklung, wenn man Weihnachten als das Fest der Liebe und Familie definiert.

Marstrander: Für viele unsere Patienten ist Weihnachten eine herausfordernde Zeit. Weil Vereinsamung spürbarer wird - und wir wissen, dass unsere Patienten überproportional oft vereinsamen. In dieser Zeit, wo sich alles so glanzbildartig verdichtet, wird das Defizitgefühl umso größer. Wenn an Heiligabend die Bürgersteige hochklappen und viele in vermeintlich intakten Verhältnissen einen schönen Abend erleben, ist die Vereinsamung besonders deutlich spürbar. Wir haben auch Patienten, die, um geschützt zu sein, für ein paar Tage in die Klinik kommen.

Quintessenz ist, sich bewusst zu entscheiden. Da gibt es kein Richtig oder Falsch, nur eine Antwort auf die Frage: Wie will ich es gestalten? Das muss man dann bewusst für sich überlegen.

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