Protokolle des Anschlags:Erfolglos, also schuldig

Zum Auftakt einer Vortragsreihe zum Gedenkort für das Olympiaattentat 1972 spricht Archivdirektorin Sylvia Krauss über den damaligen Innenminister Bruno Merk und dessen umfangreichen Nachlass

Von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Neue Erkenntnisse zum Ablauf des Olympiaattentats und zu möglichen Fehlentscheidungen im Zusammenhang mit dem Tod israelischer Sportler und eines Polizisten auf dem Flugfeld vor dem Tower des Fliegerhorstes in Fürstenfeldbruck am 5. September 1972 brachte kürzlich der Vortrag von Sylvia Krauss im Landratsamt keine. In dem Beitrag der Historikerin ging es andere Fragen. Um Schuld am Tod der von Terroristen gefangen genommenen Geiseln, falsche Beschuldigungen und um die jahrzehntelange Verarbeitung dieser Schuld - sowie um die persönlichen und politischen Konsequenzen, die ein schicksalhaft in dieses Ereignis verstrickter Mensch daraus zog. Der Erkenntniswert lag also auf einer anderen Ebene.

Die Archivdirektorin Sylvia Krauss vom Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München betreut unter anderem den persönlichen Nachlass von Bruno Merk. Also von dem Politiker, der als bayerischer Innenminister 1972 den Krisenstab leitete und damit das Blutbad in Fürstenfeldbruck mit zu verantworten hatte. Laut Krauss zeigte sich Merk noch mehr als 30 Jahre nach dem Geschehen verantwortlich, was ihn von anderen Akteuren, wie etwa dem damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, unterschieden habe.

Anhand der persönlicher Aufzeichnungen Merks ermöglichte die Archivdirektorin Einblicke in die "schlimmsten Wochen" im Leben des CSU-Politikers Merk. Diese Ereignisse verfolgten ihn Zeit seines Lebens. Der Innenminister hielt vom ersten Telefonanruf in den Morgenstunden bis zum Tod der Geiseln den Ablauf des Attentats auf "Zeittafeln" akribisch fest. Am Anfang steht also ein Mensch, der, ohne damit bereits eine bestimmte Absicht zu verfolgen, wie in einem Protokoll umfassend mit exakten Zeitangaben handschriftlich dokumentiert, wie er das Ereignis erlebt.

Nachlaß von Bruno Merk im Bayerischen Hauptstaatsarchiv in München, 2012

Auf "Zeittafeln" dokumentierte Bruno Merk 1972 die Ereignisse des Olympia-Attentats und lieferte so eine Grundlage für historische Recherchen.

(Foto: Catherian Hess)

Der Reflexionsprozess über das Geschehen verstärkt sich erst im Laufe der Jahre. Bis am Ende die Analyse in der Vordergrund rückt. Das Attentat begleitet den ehemaligen Politiker nicht nur bis an sein Lebensende. Es belastet ihn, er hat daran zu knabbern und zu leiden, vor allem wegen der damit verbundenen Vorwürfe. Erst am Schluss rückt für Merk die Analyse in den Vordergrund, die ihn dazu bringt, dass das Terroristenproblem an seiner Wurzel anzugehen sei, was jedoch nicht geschieht.

Der Welt wäre viel erspart geblieben, wenn sie nach dem Olympiaattentat das Problem Palästina auf die Tagesordnung der Weltpolitik gesetzt und gelöst hätte, kritisiert der Bayer und ehemalige Landrat Merk das übliche Verdrängen und Wegschauen. Und er stellt Fragen wie die, warum niemand etwas unternommen habe, um das Schicksal der Palästinenser zu erleichtern. Merk bezeichnet die Palästinenser auch als ein entmündigtes Volk, das in menschenunwürdigen Lebensverhältnissen gehalten werde. Und er spricht offen darüber, dass so etwas nicht ohne Folgen bleibe. Solche Überlegungen erinnern an erste Vorstellungen zu dem noch zu schaffenden Gedenkort zum Olympiaattentat im alten Tower auf dem Fliegerhorst in Fürstenfeldbruck, die genau in diese Richtung weisen. Das ist der Vorschlag, in Fürstenfeldbruck nicht nur einen Gedenkort, sondern auch einen Ort der Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus zu schaffen. Schließlich bildet das Referat der Archivdirektorin den Auftakt der Vortragsreihe "Von der Vision zur Realisation - der Erinnerungsort Olympia-Attentat 1972 in Fürstenfeldbruck".

Seinen persönlichen Schlussstrich unter das Attentat, so das Fazit der Archivarin, zog der Nachlassgeber Merk übrigens erst im Jahr 2006 mit der Feststellung, die Zeit sei noch nicht reif, um die Ursachen und Folgen des Terrorismus aufarbeiten zu können. Aus dieser Feststellung spricht Resignation. Merk ist es überdrüssig, weiter vergeblich für seine Sache zu kämpfen.

Dass das Attentat zum bestimmenden Thema von Merks letzten Lebensjahren wird, hat mit dessen Persönlichkeit zu tun. Sylvia Krauss, die viele Gespräche mit ihm über seinen Nachlass führte, spricht von einer "Ausnahmeerscheinung unter Politikern". Der ehemalige bayrische Innenminister sei authentisch, gradlinig, unbequem, kantig, unerschrocken und undiplomatisch gewesen, sagt sie. Also jemand, der unverdrossen seinen Weg verfolgte, ohne Rücksicht auf Verluste. Und Merks Weg nach dem Attentat bestand nun einmal zu großen Teilen in der Rechtfertigung des Geschehens in Fürstenfeldbruck. Dessen tragisches Ende hielt der Leiter des Krisenstabs für schicksalhaft und unausweichlich. Die in der Öffentlichkeit, von Angehörigen der Opfer und von Journalisten immer wieder gemachten Schuldzuweisungen Richtung Polizei trafen seiner Ansicht nach die Falschen. Es wurden nämlich nicht die Täter, also die Terroristen beschuldigt, sondern die Polizei, die versagt habe. Merk störte, dass sich viele nachträglich anmaßten, besser zu wissen, was damals anders gemacht hätte werden müssen. Deshalb legte er sich auch mit Franz-Josef Strauß an, mit Filmemachern, mit Fernsehanstalten, die Dokumentationen über das Attentat ausstrahlten. Und er trat schließlich auch aus der CSU aus, aber nicht wegen der Palästinenserfrage.

Protokolle des Anschlags: Sylvia Krauss verwaltet den Nachlass des ehemaligen bayerischen Innenministers Bruno Merk.

Sylvia Krauss verwaltet den Nachlass des ehemaligen bayerischen Innenministers Bruno Merk.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Die immer wieder beschuldigte Polizei, auch das stellt Krauss anhand von Quellen aus dem Merk-Nachlass dar, sei jedoch damals weder auf ein solches Ereignis vorbereitet gewesen, noch verfügte sie über die für einen solchen Einsatz erforderliche Ausrüstung. Deshalb weist der ehemalige Innenminister und Dienstherr immer wieder beharrlich alle Schuldzuweisungen an die Polizei zurück. Kritiker des Einsatzes hielten eine Befreiung der Geiseln nämlich für möglich. Nur sei das Unterfangen am Unvermögen der Polizei gescheitert.

Das angebliche Unvermögen, so Merks Darstellung, war jedoch der "Münchner Linie" und dem Zeitgeist geschuldet. Man wollte friedliche Spiele, die Polizei sollte unsichtbar und unbewaffnet sein. Das war das Konzept. "Man träumte vom unbewaffneten Bobby", stellt Sylvia Krauss fest. Eine Kampfausbildung oder eine bessere Bewaffnung der Polizei waren in den Jahren nach den Schwabinger Krawallen nicht angesagt. Im Vordergrund standen psychologische Ausbildung und Deeskalation.

Mit verheerenden Folgen auf dem Flugfeld in Fürstenfeldbruck. Den mit der Standardwaffe der Bundeswehr ausgerüsteten Scharfschützen fehlten Funkgeräte, über die sie miteinander hätten kommunizieren können. Und die G-3-Gewehre, über die sie verfügten, taugten selbst mit Zielfernrohr nur bedingt als Scharfschützengewehr. Zudem soll den Scharfschützen nicht einmal die genaue Zahl der Terroristen bekannt gewesen sein. Aufgrund des angeblich schuldhaften Versagens der Polizei stellten Angehörige der getöten Israelis Schadenersatzansprüche, ohne damit Erfolg zu haben. Merk selbst sah sich mit 15 Anzeigen und dem Vorwurf der fahrlässigen Tötung konfrontiert.

Der persönliche Nachlass von Merk ist komplett erfasst und im Hauptstaatsarchiv an der Ludwigstraße in München für jedermann einsehbar. Dis Historikerin Angelika Schuster-Fox, die die Bestrebungen des Landkreises wissenschaftlich begleitet, im Fliegerhorst einen Erinnerungsort zu schaffen, bezeichnet den Merk-Nachlass als wichtige Quelle zum Verlauf des Attentats und zur Beurteilung der Mythen, die sich um dieses Ereignis ranken

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