Projekt Babywatching:Lilith und die Neuntklässler

Germering Projekt Babywatching

Gruppenstunde mit Baby: Schüler der Regel-9-Klasse der Germeringer Kerschensteinerschule lernen von Lilith, die jede Woche mit Mutter Franziska Juna (li.) in die Stunde kommt.

(Foto: oh)

Einmal pro Woche bekommen fünf Klassen der Kerschensteiner Schule in Germering neuerdings Besuch von einem Baby. Die Schüler sollen Mutter und Kind beobachten und dadurch Feinfühligkeit und Empathiefähigkeit lernen

Von Heike A. Batzer, Germering

Lilith verzieht den Mund zu einem kleinen Grinsen. So wie kleine Babys das eben tun und ihr Gegenüber sofort dazu bringen, sich von dem Lippenbekenntnis angesprochen zu fühlen. Nonverbale Kommunikation in ihrer besten Form. Die kleine Lilith ist sieben Monate alt, jeden Dienstag kommt sie neuerdings mit ihrer Mama an die Kerschensteiner Schule in Germering. Dort tut sie nichts, was sie nicht auch zu Hause in Gilching täte: ihre Umgebung beobachten, Gegenstände anfassen, in den Mund stecken, sich ein wenig herumtragen lassen. Mit dem Unterschied, dass sie dabei nicht allein ist mit Mama Franziska Juna, sondern mit gut zwanzig Schülerinnen und Schülern einer neunten Klasse eine Schulstunde in einem Klassenzimmer verbringt.

Lilith gehört zum Projekt Babywatching, das seit Beginn des Schuljahres an der Kerschensteiner Schule läuft. Auf einen entsprechenden Aufruf meldeten sich fünf Mütter mit ihren Babys. Eine vierte, eine fünfte und zwei neunte Klassen nehmen teil, eine sechste Klasse wird demnächst sogar Zwillinge bekommen, sobald die geboren sind. Man wolle in verschiedenen Jahrgangsstufen ausprobieren, "wie die Kinder reagieren", sagt Konrektorin Claudia Wagenführer, die das Projekt und eine neunte Klasse darin betreut.

Auf manchen wirkt das Vorhaben zunächst irritierend: Ob sie die Schüler vom Kinderkriegen abhalten oder es ihnen schmackhaft machen wolle, sei sie von Bekannten gefragt worden, erzählt Wagenführer. Dabei geht es darum, dass die Schüler durch das Beobachten eines Kleinkinds und der Interaktion mit seiner Mutter einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen finden, Empathiefähigkeit und Feinfühligkeit lernen und gleichzeitig aggressives und ängstliches Verhalten abbauen.

In den Achtzigerjahren hatte der Aggressionsforscher Henri Parens in den USA Studien zur Vorbeugung aggressiver Verhaltensstörungen bei Kindergartenkindern durchgeführt. Basierend darauf entwickelte der Münchner Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut Karl Heinz Brisch das Babywatching vor etwa zehn Jahren als Präventionsprojekt an der Kinderklinik und Poliklinik im Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für viele Einzelkinder ist das Projekt die erste und oft einzige Möglichkeit, die Entwicklung eines Babys während des gesamten ersten Lebensjahres kontinuierlich zu beobachten.

Dass sie Teil eines Präventionsprojekts ist, interessiert Lilith herzlich wenig. Die Schülerinnen und Schüler der neunten Klasse haben den Unterrichtsraum schon vorher hergerichtet, ihre Tische und Stühle an den Rand geschoben und Platz geschaffen inmitten des Raumes. Dort breitet Franziska Juna zwei Decken übereinander aus, auf denen Lilith es sich gemütlich machen darf. Das kleine Mädchen kann schon sitzen, eine Schülerin stützt sie. Die Buben und Mädchen der Abschlussklasse sitzen im Kreis am Boden um das Baby herum und beobachten es. Im Raum ist es mucksmäuschenstill. Und das sei bisher bei Liliths Anwesenheit immer so gewesen, betont Claudia Wagenführer. Die Schüler nehmen sich selbst zurück, zum Leisesein ermahnt werden müssen sie nicht. Davon träumt wohl so mancher Mathelehrer. Wagenführer reicht dem kleinen Mädchen einen bunten Spielzeugwürfel aus Stoff, schüttelt ihn. Der Würfel macht Geräusche. Lilith reckt ihm beide Arme entgegen, sie lacht, blickt suchend zu ihrer Mutter auf. Dann hält sie den Würfel mit beiden Händen fest.

Lehrerin Claudia Wagenführer, die wie fünf ihrer Kolleginnen eine eintägige Schulung für das Projekt gemacht hat, moderiert das Geschehen, fragt ihre Schüler, was ihnen im Vergleich zu den letzten Besuchen von Lilith denn aufgefallen sei. Sie habe mehr Haare bekommen, lautet eine Antwort, und sie habe anfangs noch nicht so lange sitzen können wie jetzt. "Und was macht sie immer wieder?", fragt Wagenführer, die inzwischen im Schneidersitz zwischen ihren Schülern Platz genommen hat. "Sie schaut sich um", sagt ein besonders interessierter Schüler, der Quirin heißt. "Und womit nimmt sie immer Blickkontakt auf?", fragt Wagenführer weiter. "Mit ihrer Mama." Lilith liegt mittlerweile auf dem Bauch. Das gefällt ihr nicht. Sie meckert. Franziska Juna hebt sie hoch, stützt ihre kleine Tochter am Bauch ab. Lilith ist wieder zufrieden. "Die Mama sagt nichts, aber sie weiß, was los ist", erläutert Wagenführer.

Franziska Juna hatte den Aufruf der Schule gelesen und sich entschlossen, mitzumachen. "Ich habe jetzt Zeit", sagt die Tierarzthelferin, die sich nun erst einmal um die Erziehung ihres ersten Kindes kümmern will. Als sie zum ersten Mal in der Klasse war und "die vielen großen Jungs" gesehen hat, habe sie nicht gedacht, "dass die so begeistert sind. Aber sie sind so nett mit der Kleinen", freut sich die 27-Jährige: "Wir kommen gerne hierher." Ein ganzes Schuljahr lang werden sie das tun. "Das wird noch spannend", vermutet Juna, "wenn Lilith dann krabbelt oder läuft".

Die Schüler müssen von jeder Stunde einen kleine Zusammenfassung abliefern, in Worten, in Bildern. Einige holen ihre Handys raus und machen Fotos. Claudia Wagenführer hält Baby Lilith auf dem Arm und lässt sich jeden Eintrag zeigen.

Die bisherigen Ergebnisse des Babywatching-Projekts, das mittlerweile auch bei Demenzkranken eingesetzt wird, haben gezeigt, dass die Kinder und Jugendlichen beginnen, "diese Fähigkeit auf alltägliche Situationen zu übertragen, indem sie sich feinfühliger, sozialer sowie weniger ängstlich untereinander verhalten", fasst Erfinder Karl Heinz Brisch auf seiner Internetseite zusammen. Auf Schüler Dominik wirkt die Anwesenheit von Lilith "beruhigend". Man lerne schneller, was man sehe, sagt Christina, seine Klassenkameradin, und für Quirin sind die Stunden mit dem Baby vor allem "spannend. Da ist jedes Mal was Neues". Er sagt auch, dass er sich gar nicht vorstellen könne, dass Lilith in einem Jahr wieder weg ist. "Du doch auch", raunt ihm sein Nachbar zu. "Wir sind dann alle weg. Wir sind die Abschlussklasse."

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