Programm der Europäischen Akademie Bayern:Folgenschwerer Austritt

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Podiumsdiskussion statt Unterricht: Puchheimer Zwölftklässler stellen Fragen zum Brexit an den Landtagsabgeordneten Reinhold Bocklet (von rechts) und Marc Hilgenfeld, Geschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Wirtschaft. (Foto: Johannes Simon)

Puchheimer Gymnasiasten diskutieren mit einem Politiker und einem Wirtschaftsvertreter über den Austritt der Briten aus der Europäischen Union. Die einhellige Meinung lautet: Die Engländer haben sich mit dem Brexit nicht unbedingt einen Gefallen getan

Von Katharina Proksch, Puchheim

Welche Bedeutung hat der Brexit für Europa? Das beschäftigte die 100 Schüler der zwölften Jahrgangsstufe des Gymnasiums Puchheim an diesem Vormittag. Das Programm der Europäischen Akademie Bayern, gefördert durch die Bundesregierung, mit Workshops und einer abschließenden Podiumsdiskussion zum Thema war zu Gast an der Schule. Rede und Antwort standen bei der Diskussion Reinhold Bocklet, der erste Vizepräsident des Bayerischen Landtags, und Marc Hilgenfeld, Geschäftsführer des Verbandes der Bayerischen Wirtschaft. Moderiert wurde die Diskussion von Dominik Tomenendal von der Europäischen Akademie Bayern. Er ermöglichte den Schülern, Fragen zu stellen und somit eine "lockere und entspannte" Atmosphäre zu kreieren, denn Anne Will wolle er nicht nachspielen.

Sowohl für Bocklet als auch für Hilgenfeld kam die Entscheidung der Briten zum Brexit relativ überraschend, beide hätten nicht damit gerechnet. Bocklet sieht das große nationale Selbstbewusstsein der Briten als einen der Auslöser für ihren Austritt aus der EU. "Sie waren immer Sieger", sagte Bocklet, obwohl in den vergangenen Jahrzehnten die Industriemacht sank. Das konnten sie aber mit ihrem Status als weltweit größtes Finanzzentrum ausgleichen.

Aufmerksam verfolgten die Schüler die Beiträge der Redner, die verständlich, ruhig und sachlich die Situation darlegten, ohne Eigenwerbung einfließen zu lassen.

"Wird sich das Finanzzentrum innerhalb der EU verschieben?", lautete die Frage eines Schüler. Hilgenfeld sieht Tendenzen dafür, dass Frankfurt das neue Finanzzentrum werde, jedoch nicht im bisherigen Ausmaß. Den Verschiebungen innerhalb Europas stimmte Bocklet zu, auf dem globalen Markt hingegen werde es weniger Veränderungen geben. Als Gewinner sieht Bocklet die Briten nicht, dass sie aus der EU ausgetreten sind. England sei raus aus dem Binnenmarkt. Jahrelang hätten beispielsweise Autoteile zollfrei ein- und ausgeliefert werden können, das werde wegfallen und Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. "Die wirtschaftlichen Vorteile, zum Beispiel durch den europäischen Binnenmarkt, wurden nicht ausreichend vermittelt", so Hilgenfeld. Genauso wie die lange Friedenszeit, die auf die EU-Mitgliedschaft zurückzuführen sei.

Wie könne man Brexit-Befürworter umzustimmen und die Vorteile der EU verdeutlichen? kam es als Fragen interessiert aus dem Publikum. "Selbstverständliche Kleinigkeiten, individuelle Vorteile" wie beispielsweise Arbeitsplätze in der Autoindustrie, die durch den Binnenmarkt der EU geschaffen wurden, müsse man "vor Augen führen", erachtet Hilgenfeld als nötig Erwiderung. Vielen werde der Verlust erst später klar werden, so Bocklet. Die Ablehnung der Europäischen Kommission gegenüber England, nicht mehr europäische Kulturhauptstadt werden zu können, hätten sie aber jetzt schon zu spüren bekommen. "Sie müssen die Konsequenzen tragen", sagte Bocklet.

Nun wurde den Schülern im Laufe der Podiumsdiskussion von Hilgenfeld vermittelt, dass vor allem die sozial schwache Bevölkerung für den Brexit gestimmt habe. "Nicht die ganze Bevölkerung steht hinter dem Brexit." Welche Möglichkeiten hat die EU, um die Armutsschere in solchen Ländern zu verringern, warum stärkt sie nicht die Bildung? Bocklet erklärte daraufhin, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik Staatsangelegenheit sei. Außerdem sei zu hinterfragen, in wie weit beispielsweise europäische Gelder tatsächlich etwas ausrichten würden. Hinzukäme, dass deutsche Steuerzahler es möglicherweise nicht gut heißen würden, ihre Gelder in Länder wie Spanien fließen zu sehen. Hilgenfeld ergänzte, dass osteuropäische Länder wie Polen durch die EU industriell gestärkt und Arbeitsplätze geschaffen worden seien. Durch den Binnenmarkt sei das möglich, für England werde das nach dem Brexit schwieriger. Sie müssten sich "reindustrialisieren", doch das sei ein langer Prozess. Und wie kann ich mich als Bürger bei der Gesetzgebung beteiligen?, war die Frage einer Schülerin. Bocklet verwies an dieser Stelle auf den Vertrag von Lissabon. Dieser ermöglicht nationalen Parlamenten mehr Mitspracherecht. "Wenn man an der Bundestagswahl teilnimmt, nimmt man auch an Europa teil", so Bocklet.

Die Fragen der Schüler zeigten, dass ein Partizipationswille an Europa da ist und die Sorge besteht, dass noch mehr europäische Mitgliedsländer der britischen Entscheidung folgen könnten. Es geht um ihre Zukunft Europas. Somit scheint auch das Anliegen des Sozialkundelehrers Werner Anetsbergers nach diesem Thementag ein Stück weit erfüllt worden zu sein, nämlich "den Demokratiegedanken zu festigen und stolze Staatsbürger zu erziehen".

© SZ vom 21.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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