Süddeutsche Zeitung

Ortsgeschichte:Blick auf das "Schokoladenhaus"

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Der Kahlschlag am Brucker Bahnhof gibt die Sicht auf ein traditionsreiches Gebäude aus der Frühzeit des lokalen Tourismus frei. Bewohner und Eigentümer schwanken zwischen Entsetzen und Verständnis für die Fällaktion der Bahn AG

Von Peter Bierl, Fürstenfeldbruck

Der Kahlschlag am Brucker Bahnhof löst Entsetzen aus. "Es ist fürchterlich, wir sitzen da wie auf dem Präsentierteller", sagt Gisela K. Sie wohnt seit fast 50 Jahren mit ihrer Familie oben in dem sogenannten Schokoladenhaus an der Hangkante. Der Eigentümer des Anwesen, Ludwig Weiß senior, berichtet, dass die Bahn AG ihre Nachbarn nicht gefragt oder informiert habe. "Man hätte wenigstens die Bäume an der Kante stehen lassen können", rügt er.

Als die Gleise nach 1870 verlegt wurden, schnitten die Bahnarbeiter den Engelsberg auf der Nordseite an. Deshalb unterscheidet sich der steile Hang deutlich von der gemächlicher ansteigenden Topografie weiter westlich, jenseits des Fußweges und der Treppe zum Kloster. Im Abschnitt des Steilhangs lässt die Bahn AG sämtliche Bäume fällen, damit keiner auf Leitungen und Gleise stürzt. Laut Forstamt besteht auch die Gefahr, dass der Hang abrutscht.

Einen solchen Erdrutsch kann sich Gisela K. durchaus vorstellen, etwa nach einem jener Starkregen, die der Klimawandel mit sich bringt. Trotzdem bedauert sie die Fällung. "Bisher hatte ich das Gefühl, mitten in einem schönen Wald zu leben, ganz abgeschirmt", sagt sie. Das verwinkelte Gebäude auf der Hangkante ist jetzt vom Bahnsteig aus wieder deutlich sichtbar. Was bisher allerdings wie ein Grünstreifen wirkte, der Bruck nach Süden abgrenzte und das Ortsbild prägte, wuchs erst in den vergangenen Jahrzehnten heran.

Als die Familie 1972 in das alte Haus einzog, hätten sie einen freien Blick auf Bruck gehabt, weil die Bäume noch kleiner waren. Aber es sei auch nicht so kahl gewesen wie jetzt, erinnert sich Gisela K. "Ich konnte meine Töchter unten entlang gehen sehen, wenn sie von der Schule kamen. Dann wusste ich, es war Zeit, das Essen auf den Tisch zu stellen." Bereits 1927 war die Tante ihres Mannes dort eingezogen, berichtet K. Heute ist das Gebäude in zwei Wohnungen aufgeteilt, in denen sie und eine ihrer Töchter leben.

Vermieter Ludwig Weiß erzählt, dass der ganze Hang ursprünglich eine Wiese gewesen sei, später seien dort Buchsbäume gewachsen und von Bahnarbeitern gepflegt worden. Die hätten sogar Figuren ausgeschnitten und Jahreszahlen gepflanzt. Damals habe man von oben einen schönen Blick auf Bruck gehabt, irgendwann sei der Hang dann verwildert. Nach seinen Angaben hat die Bahn die Familie, der das Areal dort oben gehört, nicht informiert. Weiß bedauert das umso mehr, als er den Verlauf der Grundstücksgrenze nicht genau kennt. Auch davon, dass der Hang ins Rutschen geraten könnte, wisse er nichts. Ein gewisses Verständnis hat Weiß jedoch für den Kahlschlag. Seiner Beobachtung nach seien einige der Eschen verfault gewesen und hätten tatsächlich eine Gefahr dargestellt.

Das Haus wurde um 1880 erbaut und diente als Caféhaus für die Brucker und die Ausflügler aus der Stadt. Wegen seiner Nutzung hieß es Schokoladenhaus oder auch oberes Weiherhaus. Seit der Eröffnung der Bahnlinie waren die Münchner im Sommer zum Kahnfahren und im Winter zum Schlittschuhfahren und Eisstockschießen auf dem Weiher gekommen. Auf dem Nikolausberg weiter westlich entstanden vier Rodelbahnen sowie ein Restaurant und ein weiteres Café auf der Ludwigshöhe.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Schokoladenhaus zu einem Wohnhaus umgebaut, berichtet Weiß. Der Gastronomie diente weiterhin das untere Weiherhaus etwa weiter unten an der Straße. Auf dem Platz dort stand bereits 1808 ein kleiner lang gezogener Bau. Später entstand dort ein großes Wirtshaus mit Stüberl, Salettl und einem großen Saal, der nach dem Ersten Weltkrieg angebaut wurde. Die Brucker feierten dort allerlei rauschende Feste, die Vereine trafen sich dort, die Nationalsozialisten begingen dort ihr e Sonnenwendfeiern. 1960 brannte das Gebäude ab, die Ruine wurde abgerissen.

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Quelle:
SZ vom 20.12.2017
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