Olching:Unerklärbare Sprachlosigkeit

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Die sechsjährige Selina leidet am Joubert-Syndrom

Von Anna Landefeld-Haamann, Olching

Selina spricht nicht, obwohl sie es eigentlich können müsste. Denn ihr angeborener Gendefekt, das äußerst seltene Joubert-Syndrom, schränkt sie nur körperlich stark ein. Damit stellt die Sechsjährige nicht nur ihre Eltern vor ein Rätsel, sondern auch Ärzte und Logopäden. "Ich spüre ganz oft, dass Selina uns etwas mitteilen möchte, sehe es an ihrem Blick und ihrer Körperhaltung, aber irgendetwas scheint sie zu blockieren", erzählt die 35-jährige Mutter Nicole Salamon. Ja und Nein, letzteres ganz besonders energisch, sind die beiden einzigen Wörter, die Selina sagt. Denn was andere zu ihr sagen, versteht sie problemlos. Das bestätigte vor kurzem auch ein IQ-Test. Im September kommt Selina in die Schule. Bis dahin soll sie an einem Tomatis-Hörtraining teilnehmen, das ihre aktive Sprache fördern soll und das ihr der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung nun ermöglichen möchte.

Von "Tomatis" erfuhr die Nicole Salamon durch ihre beste Freundin, die sich "wie eine zweite Mutter" um Selina kümmert. Erfunden hat das Training Alfred Tomatis und 1958 auf der Weltausstellung in Brüssel vorgestellt. Behandeln wollte der französische HNO-Arzt damit nicht nur Sprachstörungen, sondern auch ADHS, Lernschwächen oder Gleichgewichtsprobleme. Denn all diese Probleme saßen für Tomatis an derselben Stelle: der gestressten Psyche. In einer Sitzung wird über einen schweren Kopfhörer, dem sogenannten "Elektronischen Ohr", der auf den Schädelknochen drückt, zwei Stunden lang klassische Musik abgespielt - Mozart vor allem und gregorianische Gesänge, jedoch mit veränderten Frequenzen.

Doch nicht nur Selinas Sprachstörung bereitet den Eltern Nicole und Andreas Salamon Kopfzerbrechen, sondern auch ihre körperlichen Einschränkungen durch den Gendefekt. Dabei verlief die Schwangerschaft normal. Unauffällig war jeder Ultraschall, jede Voruntersuchung. Nach der Geburt bekam Selina plötzlich Atemaussetzer, musste auf der Intensivstation künstlich beatmet werden. Mit drei Tagen lag sie das erste mal im MRT, bei dem festgestellt wurde, dass ein minimaler Teil des Kleinhirns fehlt. Daraufhin baten die Ärzte die Eltern zum Gespräch. "Als wir das ganze Konsortium samt Psychologen sahen, wussten wir: Das heißt nichts Gutes", erzählt Andreas Salamon. Joubert-Syndrom, lautete die Diagnose.

Danach zählten die Ärzte alles auf: schwache Muskulatur, sechs Zehen an jedem Fuß, geistige Beeinträchtigungen, plötzlich auftretende Blindheit und Nierenversagen. "Sie redeten Tacheles. Das war sehr schlimm für uns. Als ob dir jemand mit der Keule ins Gesicht schlägt", erinnert sich der 39-Jährige. Heute sind die Salamons froh, dass sie überhaupt eine Diagnose haben und nicht mit Ungewissheiten leben müssen. Denn das Joubert-Syndrom werde nur selten erkannt. Das liegt unter anderem auch daran, dass es bei allen Betroffenen unterschiedlich ausgeprägt ist. "Es gibt Kinder, die machen sogar Abitur und sind nur ein bisschen schlechter im Sportunterricht. Andere bleiben ein Leben lang ein Pflegefall", sagt Nicole Salamon, die sich in der Facebook-Gruppe "Unser besonderes Kind" mit 30 anderen Familien austauscht.

Selina liege irgendwo zwischen den beiden Extremen, findet Mutter Nicole. Jeder Fortschritt sei ein großes Glück - und der käme bei Selina meistens plötzlich. Mit fünf saß sie auf einmal in der Küche und Nicole Salamon fragte sich, wie sie da hingekommen sei. Selina hatte sich auf dem Popo dorthin gerobbt. Seitdem bewegt sie sich so durch die Zimmer. "Sie übt heimlich", weiß Vater Andreas, "Wenn sie mitbekommt, dass wir sie beobachten, hört sie sofort auf." Draußen schieben sie die Eltern im Rollstuhl. "Man kann sich nicht vorstellen, dass selbst viele Arztpraxen nicht rollstuhlgerecht ausgebaut sind", schüttelt Nicole Salamon den Kopf. Sie hat Selina und den Rollstuhl schon unzählige Treppenstufen hinauf- und wieder hinabgeschleppt.

"Das Leben mit einem besonderen Kind wäre an sich etwas Bereicherndes. Schwer machen es einem aber die anderen", sagt Nicole Salamon. Als Selina drei Jahre alt ist, wird den Salamons der Kindergartenplatz gekündigt. Plötzlich, mitten im Jahr. Sätze wie "Die Krätze könnte auch auf unsere Kinder überspringen" sollen dabei gefallen sein. Salamon gibt ihren Job auf, um Selina für einige Zeit zu Hause zu betreuen. Bei den Krankenkassen und beim Bezirk Oberbayern sei der Ton nicht freundlicher. Für Selinas Pflegestufe zog die Familie sogar vor Gericht. Anderthalb Jahre dauerte der Prozess. Am Ende gab der Richter den Salamons in allen Punkten Recht. Genauso müsse jedes neue orthopädische Hilfsmittel für Selina hart erstritten werden; ärztliche Gutachten und Bescheinigungen würden oft angezweifelt. "Ihre Tochter braucht das nicht", sei das ewige Mantra der Sachbearbeiter bei den Krankenkassen. "Es ist ein Kampf. Immer und alles. Noch nie lief etwas glatt", klagt Nicole Salamon. Und der Kampf geht weiter - denn einen geeigneten Schulplatz für kommenden Herbst hat Selina noch nicht.

© SZ vom 02.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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