Theater:In einer Welt voller Macht und Missbrauch

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Noch scheint die Welt von Marie (Anne Distler) und Woyzeck (Alexander Wagner) in Ordnung... (Foto: Jana Islinger)

Harald Molocher inszeniert den „Woyzeck“ an der Neuen Bühne als wuchtiges Spektakel voller Aktualität. Dabei beschwört er auch Nick Cave und Nirvana.

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Diese Gesellschaft ist ein Tollhaus. Ein Affe schlappt über die Bühne, eine Ansagerin präsentiert ein Pferd, das ein bisschen Mensch ist oder einen Menschen, der ein bisschen Pferd ist. Wer kann das schon sagen? Sie führt das Wesen vor, lässt es Kunststücke vollführen. Der Hauptmann (Harald Molocher) vordergründig tief gläubig und sich moralisch überlegen fühlend, lässt sich hinter verschlossenen Türen von seinem Untergebenen Woyzeck (Alexander Wagner) erst rasieren und dann mit dem Gürtel den blanken Hintern versohlen. In der Öffentlichkeit freilich verhöhnt er ihn, wo es nur geht. Es ist also viel los an diesem Abend an der Neuen Bühne Bruck, bei der Premiere von Georg Büchners Dramenfragment „Woyzeck“ unter der Regie von Harald Molocher.

Wie dressierte Affen verhalten sich die Figuren und Büchners Drama. (Foto: Jana Islinger)

Der Gründer der Bühne, der sich 2019 zurückgezogen hat, kehrt nun, zum 40-jährigen Bestehen, noch einmal zurück, um Büchners wuchtiges Sozialdrama ebenso wuchtig zu inszenieren. Das beginnt schon beim Bühnenbild. Es besteht aus nicht mehr als einem Holzpodest, in das ein großes schwarzes Kreuz eingelassen ist. Das wird bei Bedarf ausgeklappt und dient mal als Rasierstuhl, mal als Untersuchungstisch – vor allem aber als Symbol der Bigotterie dieser Gesellschaft, in der die mit Macht und Geld die Mittellosen kontrollieren, mit ihnen spielen als seien sie die dressierten Tiere, die da am Anfang auf der Bühne vorgeführt worden sind.

Selbst in seiner Freizeit steht Woyzeck (Alexander Wagner, links) dem Hauptmann (Harald Molocher) zur Verfügung. (Foto: Jana Islinger)

Im Mittelpunkt Woyzeck, wunderbar lakonisch gespielt von Alexander Wagner in all seiner Unterwürfigkeit gegenüber allem, der in seiner Konditioniertheit sogar vor seiner Marie (Anne Distler) zum Salut ansetzt. Psychisch gebrochen und krank, körperlich durch die Erbsenkur des Doktors (Tina Münch) ebenso gebrochen und krank, muss er nun auch noch erkennen, dass Marie ihn mit dem Tambourmajor (Alexander Schmiedel) betrügt. Sie träumt vom sozialen Aufstieg, ihr eitler – und dabei in seiner Männlichkeit doch tief verunsicherte – Liebhaber davon, mit ihr „eine Zucht von Tambourmajors“ aufzuziehen. Es sind auf allen Seiten die Instinkte, die hier die Kontrolle übernehmen.

Ihre Gefühle können all diese Figuren nicht ausdrücken. Nicht bei Büchner, nicht in der Inszenierung. Also lässt Molocher die Musik sprechen – zusammengestellt und gesungen von Conny Rockenschuh, unterstützt von Hagen Ullmann an der Gitarre, der Woyzecks Kameraden Andres spielt. Zu Celestes „Strange“ lässt Woyzeck seine Beziehung zu Marie Revue passieren: „I tried for you / Tried to see through all the smoke and dirt / It wouldn’t move“, „Say isn’t it strange / Isn’t it strange / I am still me / You are still you“. Nick Caves „Into my Arms“ ist die nie ausgesprochene und zu späte Liebeserklärung. „And I don’t believe in the existence of angels / But looking at you I wonder if that’s true“. Einfache, eingängige Zeilen – und für Woyzeck doch zu komplex, um sie selbst zu formulieren.

Zugleich tief verstörend und als inszenatorisches Highlight, das das ganze Stück in einer Szene, einem Song, verdichtet, gelingt der Moment, in dem der Major Marie zum Sex überredet. Sie verführt. Sie nötigt. Drängt. Während Schmiedel sie ungestüm mit eindeutigen Bewegungen gegen das aufgestellte Kreuz presst, die Bühne in tiefes Rot getaucht, beginnt Distler zu singen. Erst leise, dann immer lauter. „Rape me“ von Nirvana. „Rape me / Rape me, my friend“, „Hate me / do it and do it again“. Und plötzlich stimmt Woyzeck aus dem Publikum ein, brüllt ebenfalls immer und immer wieder: „Rape me“. All die Misshandlungen, die er erfahren hat, durch seine Vorgesetzten, den Doktor, die Unfähigkeit trotz aller Opfer seine junge Familie zusammenzuhalten und ordentlich zu ernähren, die Visionen, die ihn verfolgen, alles kulminiert in diesem Moment, in dem er mit ansehen muss, wie ihn auch noch Marie, sein einziger Anker, verrät. Nun also stürzt die Welt endgültig zusammen, aus Woyzeck dem Opfer wird Woyzeck der Täter.

Büchners fundamentale Systemkritik, seine Mahnung vor Machtmissbrauch, Willkür, Unmenschlichkeit, sie wird an diesem Abend dank einer starken Inszenierung und einem überzeugenden Ensemble greifbar und aktuell.

„Woyzeck“, Neue Bühne Bruck. Nächste Termine: an den Freitagen, 31. Januar, 7., 14. und 28. Februar, am Samstag, 22. Februar, und Sonntag, 9. Februar. Karten unter www.Buehne-Bruck.de.

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