Musik:Abschied vom Sepp

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Josef Kink leitet ein letztes Mal den offenen bairischen Singabend. Zwei Frauen wollen die Tradition weiterführen

Von Anna Landefeld-Haamann, Emmering

Highlights waren die jährlichen Faschingstreffen, wie hier in Türkenfeld 2014. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Noch ein letztes Mal das lieb gewonnene Ritual: Kräftig-lärmendes Gemurmel aus 120 Mündern, Besteck- und Gläsergeklapper verstummen, verwandeln sich auf einmal in heiteres D-Dur im Dreivierteltakt: "Auf'm Berg oder im Tal". Pause, Spannung halten, weiter: "Singa tean mas überall", schallt es durchs Emmeringer Bürgerhaus. Alle Augen sind auf den älteren Herren in hellblauem Hemd und grauer Lodenweste gerichtet, folgen jeder seiner schwungvollen Armbewegungen, federleichtes Flügelschlagen wie das eines Vogels kurz vor dem Abflug.

Zum letzten Mal lädt Sepp Kink zu einem seiner offenen Singen. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Josef Kink, den alle hier nur Sepp nennen, hat den proppevollen Saal im Griff - so wie die vergangenen 22 Jahre auch, Monat für Monat, wenn er zu seinen offenen, bairischen Singabenden in den Brucker Wirtschaften von Emmering bis Türkenfeld einlud. Immer sangen sie die altbayerische Weise "Auf'm Berg oder im Tal" zur Eröffnung. Heute nun ein letztes Mal. Mehr als sonst sind an diesem Abend gekommen - seinetwegen. Weil es immer "so schee" war und heute Abend noch ein bisschen schöner werden soll. In einer Ecke stehen Blumen in Masskrügen, Weinflaschen für die drei Musikanten, ein Präsentkorb. Ein kleinerer Korb mit einer übergroßen, selbstgebastelten Grußkarte wandert durch die Reihen.

Es ist ein Abschied vom Sepp. Der 81-jährige Emmeringer verabschiedet sich nach über zwei Jahrzehnten nicht nur von seinen Sängern, sondern nach ebenso langer Zeit auch von seinem Ehrenamt als Kreisheimatpfleger für Volksmusik, Volkstanz, Tracht und Mundart. Für seinen leidenschaftlichen Einsatz ehrte ihn 2015 der Bezirk Oberbayern mit der Bezirksmedaille. "Volksmusik bringt d'Leut z'amm", sagt Kink und zieht, ungewohnt sachlich, Bilanz: 1250 Besucher, 550 Lieder, 230 offene Singabende

Bei fast allen Terminen war Josef Thurner (rechts) dabei. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Bis auf eine Hand voll hat Josef Turner alle besucht. Davon abhalten konnten den 89-jährigen nur Familiäres oder die Grippe - und das, obwohl er sich selbst als "eher unmusikalisch" einschätzt. Aber er mag traditionelle Volksmusik gern. Wenn man die dann noch gemeinsam mit anderen singe, sei das jedes Mal ein schönes Gefühl.

22 Jahre lang organisierte Sepp Kink monatlich bairische Singabende. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Die "Blattl" mit den Texten und Noten, die Kink bei jedem Treffen austeilt, hat Turner über die Jahre in einem Din-A5-Aktenordner gesammelt. Alphabetisch, jedes Notenblatt hat er in eine eigene Klarsichthülle gesteckt. "Außerdem", sagt er und nimmt einen Schluck von seiner dunklen Weißbierhalben, "im Laufe der Zeit habe ich so sämtliche Wirtschaften im Landkreis kennengelernt."

Kink pustet ins Mikrofon. "Bitteschön!", sagt er. "Denkt einmal an das Jahr 1800 zurück. 1791, da war der Mozart gestorben, der Beethoven lebte noch. Und der Napoleon zog durch Europa, als dieses Liadl entstand. Es ist heute noch genauso aktuell." Kink stimmt "Die Gedanken sind frei" an. Neben essen, trinken und singen dürfen bei ihm, dem ehemaligen Lehrer, auch eine kleine Erklärung, ein kleiner Gedanke, eine kleine Anekdote nicht fehlen - und der Schabernack erst recht nicht. Den "Kerker" in der vierten Strophe, den hab er absichtlich mit einem kleinen 'K' geschrieben. "Damit ihr immer an mich zurückdenken und sagt, der Kink könne ja noch nicht einmal die Rechtschreibung." Schallendes Gelächter aus den vier Tischreihen.

Volksmusik ist für Sepp Kink seit seiner Kindheit eine Herzensangelegenheit. Alles begann 1947 in Althegnenberg. Flüchtlinge aus dem ehemaligen Sudetenland waren hier untergekommen, darunter ein Musiklehrer. Weil dieser Musiklehrer in seinem Keller keinen Platz mehr für seine Kartoffeln hatte, fragte er bei Familie Kink an. Als Dank wollte er den Geschwistern Kink Musikunterricht erteilen, denn Geld hatte er keins.

"Auf unserem Dachboden lag noch eine alte Zither. Ein großer, greislicher Kasten", erinnert sich Kink. Seine Schwester hatte wenig Lust, also musste der zehnjährige Josef ran und war entflammt. Über siebzig Jahre hält nun diese Liebe zur alpenländischen Volksmusik. In seinem Haus hat er - neben allerlei Volkskunst, Militaria, Musikinstrumenten und Mitbringseln - über mehrere Stockwerke verteilt eine beachtliche Bibliothek mit Liederbüchern angesammelt, darunter "Das leibhaftige Liederbuch", erstmals erschienen 1938, an dem wahrscheinlich auch Professor Kurt Huber von der "Weißen Rose" mitgearbeitet haben soll und natürlich Sebastian "Wastl" Fanderl. Über Fanderl, den Volksliedsammler aus dem Chiemgau, spricht Kink mit Anerkennung. Ende der Fünfzigerjahren lernte der Pädagogikstudent Kink ihn kennen. Wie sein Vorbild Fanderl gab Kink seine Liebe zum alten Volkslied und zur Musik erst an seine Schüler in Emmering weiter, rief Streichquartette ins Leben, veranstaltete Hausmusiken und Hoagarten, oft gemeinsam mit seiner Frau Zenta. Nur gemütlich musste es sein, am besten mit einer "gescheiten Brotzeit" dazu. Aufeinander hören, ein Zusammengehörigkeitsgefühl schaffen, und sei es nur für ein paar gesellige Stunden, das sei das Wichtigste für ihn, sagt Kink. "Volkslieder eignen sich wegen ihrer Einfachheit dafür besonders gut."

Und so bittet er auch an seinem Abend seine beiden Nachfolgerinnen für das "Offene Singen" nach vorn: Die 66-jährige Ingeborg Heining, pensionierte Direktorin aus Alling, und die 43-jährige Brigitte Schäffler aus Ried, drei- und viergesangserprobt. Ein wenig schüchtern sind sie, wer könnte es ihnen verübeln neben einem Tausendsassa wie Sepp Kink. "Ihr werdet reinwachsen", ermutigt er sie. "Nur ihr", er wendet sich an die Sänger im Saal, "ihr müsst's nur weiterhin alle so fleißig kommen."

© SZ vom 30.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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