Süddeutsche Zeitung

Ortsgedächtnis, Blick in die Archive, Folge 22:Reich dokumentierte Nachkriegszeit

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Im Gemeindearchiv von Moorenweis finden sich viele Unterlagen zur zweiten Hälfte der Vierzigerjahre. Glanzstück aber ist ein Erbvertrag von 1739. Der wird nur mit Handschuhen angefasst.

Von Gerhard Eisenkolb, Moorenweis

Mit der ältesten Urkunde im Archiv der Gemeinde Moorenweis geht Archivar Manfred Mahl besonders behutsam um. Bevor er den Erbvertrag vom 23. Oktober 1739 vorlegt, zieht er weiße Baumwollhandschuhe an. In der wasserfleckigen Urkunde bestätigt Baron Josephus Ignatius Durach auf Steinbach die Ansprüche der sechs unmündigen Kinder aus dem Erbteil ihrer Mutter, der verstorbenen Frau des Johann Schilling aus Steinbach. In dem Archivraum unterm Rathausdach haben sich besonders viele Raritäten aus dem 19. Jahrhundert erhalten. Der umfangreiche Bestand ist nach Ortsteilen sortiert - das sind neben Moorenweis die ehemals selbständigen Gemeinden Dünzelbach, Eismerszell, Grunertshofen, Purk und Steinbach - und wird in Kartons aufbewahrt. Die Vielfalt zeichnet den Bestand aus.

Gut dokumentiert ist auch die Aufarbeitung der NS-Zeit. So hat sich ein dicker Akt mit den Urteilen der Spruchkammerverfahren samt Begründung zur Entnazifizierung für den ganzen Ort Moorenweis erhalten. Einen Einblick in die entbehrungsreiche Nachkriegszeit gewähren die Unterlagen zur Beschlagnahmung von Flüchtlingsquartieren in Moorenweis und zur Lebensmittelbewirtschaftung.

In den Erfassungsbögen der Kommission der Regierung von Oberbayern für das Wohnungs- und Flüchtlingswesen ist für das Jahr 1948 festgehalten, über wie viele Zimmer mit welcher Ausstattung und welcher Zahl an Schlafmöglichkeiten jedes Haus oder jede Wohnung verfügte und welche Räume zur Unterbringung von Flüchtlingen beschlagnahmt wurden. Wie den Unterlagen zu entnehmen ist, war fast jedes Zimmer und jedes Bett belegt. Es wird sogar vermerkt, wo noch ein Raum ausgebaut werden konnte oder welche Bewohner noch in Kriegsgefangenschaft waren.

Beschlagnahmte Zimmer

Unter der Beschlagnahmenummer 5993 wurde festgelegt, dass die Moorenweiserin Elise P. zwei Personen aufnehmen musste, obwohl bei ihr bereits vier Untermieter wohnten. Ihr Anwesen verfügte 1948 über vier Schlafzimmer und drei Küchen, in denen neben Elise P. und deren Tochter - der Mann galt als abwesend - schon vier Untermieter lebten. Trotzdem wurde ein Zimmer zur Aufnahme von zwei weiteren Personen beschlagnahmt. Viel Platz gab es nicht, die insgesamt sieben Zimmer waren klein und nur zwischen zehn und 14 Quadratmeter groß.

Die Wohnungsnot der Nachkriegszeit kennt der Archivar noch aus Erzählungen. So musste sich die aus Ungarn ausgewiesene Familie seiner späteren Ehefrau sogar mit einem ausgebauten ehemaligen Hühnerstall als erster Bleibe im Nachbarlandkreis Dachau bescheiden.

Eine brisante Lektüre birgt der Akt mit den Urteilen der Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung der Moorenweiser Bevölkerung. Hier ist nachzulesen, dass selbst ein Mann, der wegen seines parteischädigenden Verhaltens nach zwei Jahren Mitgliedschaft in der NSDAP von der Partei ausgeschlossen und von der Kreisleitung verwarnt worden war, nicht ungeschoren davonkam. Er wurde zu einer Geldsühne von 50 Reichsmark verurteilt und musste zusätzlich die Gerichtskosten in Höhe von 54 Reichsmark tragen. Mit 100 Reichsmark fiel die Geldsühne für einen Mitläufer der Nazis doppelt so hoch aus. Dessen Gerichtskosten wurden auf 44 Reichsmark festgesetzt. 1947 profitierten drei Moorenweiser von der Weihnachtsamnestie, die zur Einstellung ihrer Spruchkammerverfahren führte. Der Akt ist seit zwei Jahren nicht mehr gesperrt und damit zur Einsicht freigegeben.

Unterlagen des Ernährungsamts in Fürstenfeldbruck ist zu entnehmen, wie viele Hennen oder Enten nicht-landwirtschaftliche Geflügelhalter 1948 halten durften. Für jede in einem Haushalt lebende Person war nur eine Henne oder Ente erlaubt. Hielt jemand mehr Federvieh als erlaubt, wurden die Tiere beschlagnahmt. Für jede Henne oder Ente betrug das "Eierablieferungssoll" 50 Stück im Jahr. Es mag kurios klingen, aber 1947 war sogar geregelt, wie viele Gänse- und Entenfedern die Moorenweiser an die Firma "Bayerwald Feder" in Cham abzuliefern hatten. Je Gans waren es 150 Gramm, je Ente 100 Gramm. Für insgesamt 90 Gänse und 46 Enten lag das Gesamtsoll an Federn bei 18,1 Kilogramm. Erhalten hat sich auch ein ganzer Packen mit Formularen, auf denen Moorenweiser meldeten, wie viele Tabakpflanzen sie nur für den Eigenverbrauch angepflanzt haben. Der praktische Arzt meldete im Juli 1947 auf 42 Quadratmetern in seinem Garten 190 bis 200 Tabakpflanzen gesetzt zu haben.

Die Archivalien stecken voller Überraschungen. Dazu passt der 73 Jahre alte Archivar Mahl, ein aktiver, in der Gemeinde verwurzelter Rentner mit breit gestreuten Interessen. Der ehemalige Ausbildungsmeister für Industriemechaniker bei Kraus-Maffei bildet als Rentner noch immer Mechaniker aus. Nur sind das inzwischen Menschen, die umgeschult werden. 2014 wurde er zum ehrenamtlichen Archivar bestellt. Vorher war er Gemeinderat und Kulturreferent, von seinem 16. Lebensjahr an bis zum Erreichen der Altersgrenze gehörte er der Feuerwehr an. Als ehemaliger Fußballer ist er stolz auf seine Zeit beim TSV Moorenweis, dessen Mannschaft damals in der Bezirksliga spielte.

Theater zum Ortsjubiläum

Ins Schwärmen gerät er, wenn er auf das aufgeführte Theaterspiel "Die schwarzen Nonnen von Moorenweis" zu sprechen kommt. Er war an der Regie beteiligt. Das Stück bildete den Höhepunkt der 1250-Jahrfeier der Gemeinde mit 125 Mitwirkenden. Am liebsten würde er sofort wieder mit der Theatergruppe das Stück von Franz Seraph Wagner aus Germering inszenieren. Zurzeit schreibt er die Gemeindechronik fort und digitalisiert Tausende Dias und Fotos sowie diverse Filme aus der jüngeren Geschichte der Gemeinde.

Da bleibt dem historisch interessierten Archivar keine Zeit mehr für die Beschäftigung mit den Inhalten der Archivalien. "Ich bin zum Verwalten da, nicht zum Lesen", merkt er an. Wichtiger ist es ihm, den Bestand um Vereinsunterlagen und Festschriften zu erweitern und auf diese Weise das Vereinsleben zu dokumentieren. Zudem hat er damit angefangen, Sterbebilder zu sammeln und zu ordnen. Wird ihm etwas zur Ortsgeschichte angeboten, kennt er nur eine Devise: "her damit".

Zum Glück verwahrten die ehemaligen Kanzleien und Verwaltungen der sechs Ortsteile Akten sorgsam, die andernorts weggeworfen wurden. Deshalb haben sich Unterlagen aus dem Ersten Weltkrieg zur Beschäftigung von Kriegsgefangenen in der Landwirtschaft mit Anweisungen zu deren Überwachung ebenso erhalten wie die Gemeindesatzung von Eismerszell zur Erhebung von zwei Mark Biersteuer je Hektoliter aus dem Jahr 1933. Ein Akt erhält die Ankündigung des Königlichen Ober-Post-Amts aus dem Jahr 1900, in Moorenweis eine Telegrafenanstalt mit Telefonbetrieb zu errichten. Ein anderer Akt besteht aus einem Flurplan des bayerischen Landesvermessungsamts von Eismerszell aus dem Jahr 1865 mit dem nicht mehr aktuellen roten Stempel: "für die Öffentlichkeit gesperrt".

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