Mitten in Mammendorf:Der erste Wahlfahrtsort

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Strahlenkränze aus dreiblättigen Riesenrotoren: Die beiden Windräder im Landkreis haben derzeit eine große Anziehungskraft auf Bundstagskandidaten. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Waren es in früheren Zeiten sakrale Bauten und Orte, von denen sich die Menschen göttlichen Beistand erhofften, sind es heute zwei ganz profane Orte, an die es momentan vor allem Bundestagskandidaten zieht

Kolumne von Christian Hufnagel

Mit Wallfahrtsorten ist der Landkreis durchaus reich gesegnet. Auf göttlichen Beistand ist so gut wie in jede Himmelsrichtung zu hoffen. Natürlich sind es Heilige, die da um Hilfe angebetet werden können. In der Kirche in Grafrath darf man sich in allen Nöten Linderung ersehnen, wenn man dort das Grab des Grafen Rasso aufsucht. In einem Kirchlein bei Jesenwang ist es vor allem der Schutz für Pferde, den der Namenspatron Willibald offenbar zu spenden versteht. Und in Puch hat in einer hohlen Linde wohl eine Einsiedlerin namens Edigna gelebt, die zu Lebzeiten fromm gewirkt und posthum dann sogar Wunder bewirkt haben soll. Drei Beispiele wundersamer menschlicher Schaffenskraft, die seit Jahrhunderten ausstrahlt, wenngleich derartige Mysterien in früheren Zeiten natürlich weitaus mehr Menschen angezogen haben, bis zu 100 000 Pilger sollen es etwa einst in Grafrath gewesen sein.

Waren aus der christlich-religiösen Tradition heraus sakrale Stätten Ziel derartiger Ausflüge, scheint sich hier in der Gegenwart geradezu ein Paradigmenwechsel zu vollziehen. Allen voran zwei supermoderne Industrieanlagen bei Mammendorf und Malching schicken sich an, Publikumsmagnet zu werden. 135 Meter hohe Betontürme wirken wie Hochaltäre der regenerativen Energiewirtschaft, ins Ikonographische erhoben durch Strahlenkränze aus dreiblättrigen Riesenrotoren, Gloriolen der klimagebeutelten Neuzeit. Und unter deren Schirm erbittet nun vor allem eine spezielle Gruppe von Menschen viel frischen Wind - für umweltfreundliche Stromerzeugung einerseits, aber zugleich auch für sich selbst. Sie alle bewerben sich nämlich um ein politisches Mandat und wollen - teils wieder - in den Bundestag. Und deshalb haben binnen weniger Wochen die Kandidaten der Grünen - sie waren zuerst da -, der Freien Wähler und zuletzt der SPD diese monumentalen Bauwerke aufgesucht. Um letztendlich dort so etwas wie ein Glaubensbekenntnis für klimaneutrale Energieerzeugung dieser Art abzugeben. Die beiden einzigen Windräder im Landkreis sind damit zwar noch kein Wallfahrtsort, aber in jedem Fall schon zum Wahlfahrtsort geworden.

© SZ vom 18.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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