Es ist eine Horrorvorstellung für Eltern: Das Kind ist krank, hat Schmerzen und Fieber, und die passende Medizin ist nicht verfügbar. Die Vorstellung wird für viele derzeit wahr. Auch im Landkreis sind momentan viele Buben und Mädchen mit Streptokokken infiziert, gefährliche Bakterien, die auch Scharlach auslösen können. Streptokokken-Infektionen müssten eigentlich mit Antibiotika behandelt werden, die aber sind in kindgerechter Form, als Saft, derzeit kaum zu bekommen. Deshalb können sie nicht so verabreicht werden, wie es erforderlich wäre. Dadurch steigt überdies das Risiko für Resistenzen.
Für die besorgte Mutter aus Fürstenfeldbruck war es eine alarmierende Nachricht: Die Medikamente, die ihre mit Streptokokken infizierte Tochter braucht, sind nicht zu bekommen. Normalerweise wird das Antibiotikum Kindern als Saft verabreicht. "Aber das gibt es im Moment nur in Tablettenform", berichtet die Mutter. Glücklicherweise habe sie die sehr große Pille zerkleinern und in Orangensaft auflösen können. Die wenig wohlschmeckende Arznei musste die Zehnjährige sieben Tage lang zu sich nehmen.
Den Mangel an Arzneimitteln haben Ärzte und Pharmazeuten der Brucker Antibiotika-Resistenz-Initiative (Bari) bereits Anfang März bei einer Pressekonferenz beklagt. Da war die Liste fehlender oder durch Alternativen zu ersetzende Arzneimittel fünf Din-A-4-Seiten lang und enthielt 90 Medikamente. Verbessert hat sich die Situation seither nicht, auch aktuell fehlen viele Präparate für Kinder.
Seit Monaten gibt es Engpässe bei Medikamenten in Saftform für Kinder.
(Foto: Jörg Carstensen/dpa)Die Mutter aus Fürstenfeldbruck wurde von ihrem Arzt auf das Problem vorbereitet. Er habe resigniert erklärt, "dass es keine Aussicht auf Besserung gibt", sagt sie. In der Apotheke sagte man ihr: "Sie können wirklich froh sein, dass Sie überhaupt etwas bekommen." Die Bruckerin ist außerdem froh, dass ihre Tochter schon zehn Jahre alt ist. Wie groß das Problem für kleinere Kinder und ihre Eltern sei, wolle sie sich gar nicht vorstellen.
In Puchheim leidet zurzeit ein zweieinhalb Jahre alter Bub an Fieber und Durchfall. Dass er privat krankenversichert ist, hilft in der aktuellen Situation nicht weiter. In der Apotheke habe man ein Alternativpräparat für Erwachsene empfohlen, das Alkohol enthält und viel höher dosiert ist als das für Kinder, berichtet die Großmutter. Das wollte die Familie nicht.
Manchmal findet man das Mittel im Internet
"Der muss halt jetzt da durch", sagt sie, das sei nun die Strategie. Sollte das Fieber steigen, gebe es noch Hausmittel wie Wadenwickel. Eine Mutter aus Germering hatte um Weihnachten Glück, das gesuchte Medikament im Internet zu finden. Auch ihr Sohn, zwei Jahre alt, hatte hohes Fieber, der verschriebene Arzneisaft war nicht in Apotheken zu bekommen.
"Es hat sich nichts geändert gegenüber März", berichtet Hermann Schubert. Er hat "Bari" gegründet, ist Leitender Oberarzt der Abteilung für Anästhesie und Intensivmedizin im Klinikum Fürstenfeldbruck und dessen Hygiene- und Pandemiebeauftragter.
Die Initiative will mit gezielter Information erreichen, dass Antibiotika nur im Bedarfsfall und in der richtigen Dosierung zum Einsatz kommt. Damit will sie Entwicklungen wie multiresistenten Krankenhausbakterien entgegen wirken. Die Devise lautet: "So schmal wie möglich, so kurz wie nötig."
Der Medikamentenmangel verhindert diese Bemühungen nun zumindest teilweise.
"Streptokokken kann man am besten mit einem schmalen Antibiotikum therapieren", erläutert Schubert. Da dieses aber zurzeit nicht verfügbar sei, müsse zu einer stärkeren Alternative gegriffen werden, also einem Antibiotikum mit breiterem Wirkungsspektrum.
"Es könnte sein, dass man eher mal Resistenzen produziert oder mit Nebenwirkungen zu kämpfen hat", sagt der Hygienebeauftragte. Die Situation werde durch die Häufung von Streptokokken-Infekten verschärft.
Apothekerin Claudia von Sachs kennt den Mangel von Arzneien in Saftform.
(Foto: Carmen Voxbrunner)Bei Arzneimitteln für Kinder, bei denen die Wirkstoffe in Saftform verabreicht werden, kommt es laut Claudia von Sachs immer wieder zu einem Mangel. Die Fachapothekerin für Klinische Pharmazie und Allgemeinpharmazie leitet die Klinikversorgung der Johannes-Apotheke in Gröbenzell. Zu ihren Aufgaben zählt die Beschaffung von Medikamenten für insgesamt 28 Kliniken in der Region, darunter das Klinikum in Fürstenfeldbruck. Um die Weihnachtszeit waren keine Säfte mit einem fiebersenkenden Wirkstoff oder dem Schmerzmittel Ibuprofen zu bekommen. Die Arznei wurde damals vorübergehend auch in Gröbenzell produziert.
Es müsste wieder mehr in Europa produziert werden
"Es gibt einen definitiven Mangel", sagt Andreas Forster. Der Radiologe und Ärztesprecher für den Landkreis berichtet von einer befreundeten Medizinerin, die in der Apotheke anruft, bevor sie ein Rezept ausstellt, um abzuklären, welche Präparate verfügbar sind. Auch Hermann Schubert kennt solche Berichte von Kollegen mit eigener Praxis. Im Krankenhaus werden Antibiotika in der Regel intravenös verabreicht, dort braucht es keinen Saft.
Um die Situation generell zu verbessern, müssten wieder mehr Medikamente in Europa produziert werden, wie es seitens Bari schon im März gefordert wurde. Denn wie die Pandemie und der Ukrainekrieg zeigen, bringt die Globalisierung auch Nachteile mit sich: Fehlende Waren, Lieferengpässe. Ärztesprecher Forster kommentiert den jetzigen Zustand folgendermaßen: "Es ist kein Wunder, wenn das ganze Zeug in Indien produziert wird - da braucht nur mal ein Schiff auszufallen."