Kunst von Geflüchteten:"Nicht intellektuell und doch intensiv"

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Christina Kuehn. (Foto: Privat/oh)

Christina Kuehn kuratiert Werke junger Geflüchteter. Zu sehen ist die Schau in Marthashofen

Interview von Sonja Pawlowa, Grafrath

Christina Kuehn und das Bella Martha Kunsthaus in Grafrath gehörten schon zusammen, bevor es das Kunsthaus gab. Eigentlich bildet die Kanadierin seit mehr als 30 Jahren eine Einheit mit Marthashofen. Vielleicht, weil dort Integration im ursprünglichsten Sinn umgesetzt wurde und wird. Kinder treffen Alte, Fremde treffen Einheimische, Kuchen trifft Kaffee und Kunst trifft Auge und Herz. An diesem m Wochenende werden im Bella Martha Kunsthaus die Werke junger Geflüchteter gezeigt. Sie haben beim Projekt "Erzähl mir deine Geschichte" ihre Erinnerungen an ihre Herkunft und Flucht unter der Leitung von Christina Kuehn und Beate Hodapp künstlerisch aufgearbeitet. Über die Hintergründe und ihre Verbindung nach Grafrath gibt Christina Kuehn im SZ-Interview Einblick.

Frau Kuehn, Sie sind in Kanada aufgewachsen?

Christina Kuehn: Meine Eltern sind dorthin ausgewandert nach dem Krieg. Und ich bin in Kanada groß geworden, hab' auch erst mal dort Bildhauerei an der Kunstakademie studiert. Nach Deutschland bin ich gekommen, weil ich die Sprache lernen wollte, und hab' dann hier weiterstudiert. Erst nach zehn Jahren in Europa bin ich mit meinem Mann nach Kanada zurückgekehrt. Doch alles kam anderes. Wir wurden in Brasilien eingeladen, eine Kunstschule für Tanz, Malerei und Bildhauerei aufzubauen. Die Schule in Sao Paulo hat Beate Hodapp mit mir zusammen geleitet, so wie auch jetzt das Projekt "Erzähl mir deine Geschichte". In Sao Paulo haben wir Projekte mit unseren Studenten aus der Ober- und Mittelschicht in den Favelas gemacht. Favelas sind die dortigen Shantytowns, deren Bewohner in Backsteinhütten wohnen und ursprünglich als Arbeitssuchende aus dem Norden Brasiliens kamen. Oft vergebens. Unsere Projekte mit Jugendlichen und Kindern waren Verschönerungsprojekte für diese Menschen, die in dieser 22-Millionen-Stadt in unglaublicher Armut leben und kein Geld für eine Kunstschule haben. So kam bei mir der Impuls: Man muss mit der Kunst was machen.

Wie kamen Sie nach Marthashofen?

Ich war dort als 24-jährige Studentin in den Semesterferien in der Altenpflege tätig. Es war ein Studentenjob, um mein Studium zu finanzieren. Ich war so idealistisch, dass ich mit den Senioren und den Mitarbeitern malen wollte. Ich wollte sie durch das Künstlerische innerlich aufbauen. Speziell die Verlassenen und Einsamen. Irgendwann wurde mir ein eigenes Atelier angeboten: ein kleines Häuschen im Hinterhof. Zusätzlich kam der Auftrag zur Bemalung der Aufbahrungshalle der Einrichtung. Die Halle habe ich mit einer Freundin ausgemalt. Während meiner zehn Jahre in Brasilien wurde die Bemalung durch einen Brand zerstört. So wurde ich nochmals gebeten, die Wände auszumalen. Diese Beziehung zu Marthashofen blieb also bestehen.

Was ist das Besondere an Marthashofen?

Was mich dort beeindruckt hat, waren die vielen Fremden aus der Türkei, aus ehemaligen Ostblock-Ländern, Serbien, Kroatien. Die für das damalige Deutschland ungewöhnlich bunte Mischung hat mich angezogen. Es herrschte ein ganz große Toleranz. Meine kanadischen Schulfreunde kamen aus Indien, aus dem Libanon, aus Afrika, aus Rumänien. Ich kannte es nicht anders. Deutschland war damals ganz anders und hat sich seit dieser Zeit verändert. Man sieht das im Beamtentum. Das Preußische steht nicht mehr so im Vordergrund. Früher wurden Ausländer nicht wahrgenommen. Ich bin auch erstaunt, wie viele Menschen sich eingebracht haben, als so viele Flüchtlinge eingetroffen sind. Durch Internet und Reisen sind die Menschen viel toleranter geworden.

Der junge Afghane Siar lebt bei Ihnen. Wie kam das?

2016 dachte ich, es kann doch nicht sein, dass wir Künstler nichts tun. So hab ich einfach mein erstes Projekt mit 16 jungen Flüchtlingen gemacht. Sie wohnten in so schrecklichen Verhältnissen, diesen Unterkünfte waren katastrophal. Siar ist immerzu weitergeschoben worden von einer Unterkunft in die andere. Ich habe gesehen, wie er immer depressiver wurde und Selbstmordgedanken hegte. Das hat mich erschüttert. Eines Tages rief er an, weil er nur 24 Stunden Zeit hatte, umzuziehen. Gleichzeitig musste er an seinem Ausbildungsplatz als Koch arbeiten. Ich hab' ihm also geholfen, aber beim Anblick seines zukünftigen Zimmers, sagte ich: Schluss, du ziehst bei mir ein. Drei Jahre wohnt er jetzt bei mir. Ich betrachte ihn als Sohn. Ich hab' nur gedacht: Schade. Wenn in Deutschland jeder, der Interesse hat, jemanden aufgenommen hätte, das wäre finanziell besser abgelaufen und auch menschlicher. So hätten alle eine Familie gehabt.

Hat Sie die Arbeit mit Geflüchteten in Ihrer Arbeit als Künstlerin verändert?

Ja. Ich glaube, in den letzten Jahren ist meine Arbeit viel klarer in der Aussage geworden.

"Erzähle mir deine Geschichte", Marthashofen 6; Eröffnung Samstag, 18. September, 18 Uhr; Sonntag, 19. September, 10 bis 17 Uhr.

© SZ vom 18.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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