Kloster Grafrath:Der Heilige, der Schriftsteller und der Narr

Graf Rasso soll einen Speer geworfen haben, um den Bauplatz für das erste Grafrather Kloster festzulegen. Eine schöne Geschichte, nach Ansicht des Forschers Ernst Meßmer aber frei erfunden.

Von Peter Bierl, Grafrath

Eines Tages stand Graf Rasso auf den Zinnen seiner Burg, erinnerte sich des Gelübdes, das er vor seiner Pilgerfahrt ins heilige Land abgelegt hatte und warf eine Lanze hinunter mit dem Ausspruch: "Wohin mein Speer fällt, will ich mein Kloster bauen." Eine schöne Geschichte. Bloß ist deren Wahrheitsgehalt so hoch wie in den anderen Sagen, die sich um den Schutzpatron ranken, zu dessen Grab in der Wallfahrtskirche von Grafrath einst jedes Jahr Tausende Menschen pilgerten, um seine Hilfe bei Schicksalsschlägen und Krankheiten zu erflehen.

Der Standort von Rassos Kloster ist einigermaßen gesichert. Er dürfte mit jenem der heutigen Wallfahrtskirche identisch sein. Der Platz ist leicht erhöht und war einst eine Landzunge, umgrenzt von Ampermoos und Amper. Was die Burg betrifft, so ließ der Müller von Wildenroth, Leonhard Hartl, anno 1900 auf dem Schlossberg einen Obelisken errichten. Die Aufschrift "Rassoburg" ist noch deutlich erkennbar. Das Denkmal steht auf einem kleinen Plateau auf einem hoch aufragenden Moränenhügel über der Amper. Ein paar Schritte davon entfernt ist eine Grube. Dort standen einst die Fundamente des Wohnturms der Burg. Früher muss es ein beschaulicher Ort gewesen sein. Man hatte einen weiten Blick und damit Kontrolle über das Land. Heute begrenzen hohe Buchen die Aussicht, von unten dröhnt der Autolärm der Bundesstraße herauf.

Bloß hätte nicht einmal ein Zwei-Meter-Mann, wie Rasso der Legende nach einer gewesen sein soll, einen Spieß etwa 800 Meter weit schleudern können. So weit entfernt ist der Schlossberg von der Wallfahrtskirche. Der Weltrekord mit High-Tech-Speeren liegt aktuell bei unter hundert Meter. Die Ungereimtheit muss Sagenerzählern irgendwann aufgefallen sein. Die Geschichte wurde abgewandelt. Demnach habe Rasso auf der Mauer eines Vorwerks gestanden, das sich bis zur Kirche des Ortsteils Höfen erstreckte. Die Rassoburg hätte also fast die Dimension der Festungsanlage von Burghausen erreicht, die mit 1051 Meter als längste Europas gilt. Und Graf Rasso hätte seinen Speer immer noch mindestens 200 Meter weit und über die Amper schleudern müssen.

Alles erfunden, sagt Ernst Meßmer. Der Altphilologe puzzelt seit Jahren aus Fragmenten die historische Gestalt hinter der Überlieferung zusammen und hat darüber mehrfach publiziert. Meßmer studierte alte Urkunden und nahm zusammen mit dem Archäologen Bernd Steidl während der Renovierung der Wallfahrtskirche 2003 eine kleine Sondierung am sogenannten Rassograb vor. Unter der Grabplatte entdeckten sie Wände, die einen Meter tief und aus Tuffstein sind, der seit dem neunten Jahrhundert in der Gegend verwendet wird. Genaueres ließe sich sagen, sofern Archäologen das Grab und Anthropologen das Skelett, das im Schrein in der Kirche ausgestellt ist, analysieren würden. Bis jetzt weiß man nur, dass es von einem Mann stammt, der zwei Meter groß und zum Todeszeitpunkt älter als 50 Jahre war.

Meßmer hält die legendäre Rassofigur für eine Vermischung zweier Personen, die nichts miteinander zu tun hatten. Einmal die Geschichte des Grafen Rasso von Dießen, der im elften Jahrhundert lebte, zum anderen die eines fränkischen Adeligen namens Ratho, der im frühen neunten Jahrhundert von Karl dem Großen oder seinem Nachfolger als Amtsträger über das Gebiet der späteren Grafschaft Andechs eingesetzt worden war. Dieser Ratho hatte einen Hof auf der Amperinsel Wörth und ließ daneben ein Kloster bauen. Den Ort am Rande des Sumpfes wählte er möglicherweise, um einen älteren heidnischen Kultplatz zu okkupieren. Denn er hatte auch die Aufgabe, die Christianisierung voranzutreiben.

Ratho verfügte vermutlich über größeren Landbesitz und herrschte über Freie und Unfreie, Grundherren und Leibeigene. Rathos Burg war hingegen, wie im frühen Mittelalter üblich, ein Holzbau, der durch seine Lage und einen Palisadenzaun besonders hervorgehoben und geschützt war. Die ihm zugeschriebene Burg auf dem Schlossberg von Wildenroth muss wesentlich imposanter gewesen sein. Bloß wurde sie Jahrhunderte nach seinem Tod aus Stein errichtet. 1369 ließen die Mönche von Fürstenfeld, die inzwischen die Herren waren, die Burg schleifen. Die Steine holten sich die Wildenrother und verbauten sie in ihren Häusern.

Grafrather Kloster

SZ-Grafik

Der Schlossberg liegt obendrein auf der "falschen" Seite der Amper. Der Fluss stellte lange Zeit die Grenze zwischen den Wittelsbachern und den Grafen von Andechs-Dießen dar. Die Rivalen werden auf beiden Seiten militärische Anlagen errichtet haben, um die Grenze zu sichern und den Flussübergang zu kontrollieren. Meßmer vermutet, dass die Rassoburg deshalb auf der anderen Seite des Flusses lag. Er hat eine Stelle lokalisiert, die bei Grafrathern als Parapluie bekannt ist, nach der Form eines Freisitzes mit Dach, den der Verschönerungsverein in den Zwanzigerjahren dort aufstellen ließ. Das Gelände fällt nach zwei Seiten hin steil ab und ist auf der dritten Seite durch einen Einschnitt von der Umgebung abgetrennt, der sich befestigen ließ. Dort hat Meßmer ebenfalls Tuffsteine gefunden, die in dieser Gegend nicht vorkommen. Für diesen Standort spricht auch ein Bericht des Augustiner-Chorherren Innozenz Keferlohr von 1640 über den "weltberühmten Nothelfer" Rasso. Er schreibt von einer Burg, die einst auf einem Berg stand, der komplett zugewachsen sei. Dort habe man eine kleine Kirche errichtet und dem Erzengel Michael geweiht. Bis heute heißt die Stelle, die Meßmer als Standort der Rassoburg vermutet, Michaelsberg.

Auch an dieser Stelle wachsen Buchen. Sie sind so hoch, dass sie fast die Sicht auf die Klosterkirche versperren, die wiederum weit außerhalb der Reichweite eines Speeres liegt. Es bleibt eine Legende, deren Entstehung Meßmer in ihren Details belegen kann. Philipp Apian berichtete im 16. Jahrhundert von einer Burg Ratzeberg, die in der Nähe des Klosters des Grafen Ratho gelegen habe. 1852 erscheint ein "Sagenbuch der bayrischen Lande" des Lehrers und Schriftstellers Alexander Schöppner. Darin taucht erstmals Rassos Speerwurf auf. Schöppner habe die Geschichte schlicht erfunden, sagt Meßmer. Seitdem geistert sie durch die Erbauungsliteratur der Heimatforscher und wurde Generationen von Schulkindern beigebracht, bis Meßmer sie buchstäblich zerpflückte. 2004 verfasste der Schauspieler und Regisseur Günther Mayr (bis zu seinem Ruhestand der Chef der Germeringer Stadthalle) ein Historienspiel anlässlich der Wiedereinweihung der renovierten Klosterkirche. Darin tritt ein Narr auf, der Rasso den Spieß abnimmt, sich verkehrt herum auf ein Pferd schwingt und davonprescht, um einen Platz für den Klosterbau zu suchen.

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