Interview mit Landrat Karmasin:"Die echte Herausforderung kommt erst noch"

Interview mit Landrat Karmasin: Landrat Thomas Karmasin in seinem Büro in der Kreisbehörde. Der 53 Jahre alte Jurist ist seit 1996 Landrat von Fürstenfeldbruck.

Landrat Thomas Karmasin in seinem Büro in der Kreisbehörde. Der 53 Jahre alte Jurist ist seit 1996 Landrat von Fürstenfeldbruck.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Landrat Thomas Karmasin bezeichnet 2015 wegen der Flüchtlingskrise als das schwerste Jahr seiner Amtszeit. Die Zuwanderer in Turnhallen unterzubringen ist für ihn noch keine Lösung. 2016 hat für ihn der Baubeginn der neuen Berufsschule Priorität

interview Von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Zum Jahreswechsel hat Landrat Thomas Karmasin (CSU) den Landkreisbewohnern nach einem aufregenden Jahr gewünscht, die Hektik hinter sich zu lassen. Auch in schwierigen Situationen locker und völlig entspannt aufzutreten, ist wohl Teil seines Erfolgsrezepts. Zum Jahresinterview in seinem sehr nüchternen, renovierten Büro empfängt er sehr entspannt mit einem gewinnenden Lächeln und es wird der obligatorische Espresso serviert. Egal, wie die Frage lautet, er muss nicht lange überlegen, was er sagt. Um eine Antwort ist er nie verlegen. Wie sehr die Flüchtlingskrise sein Denken dominiert, ist offenkundig. Auch bei anderen Themen dauert es nicht lange, bis er wieder einen Bezug zu Flüchtlingen herstellt.

SZ: Im Jahr 2016 sind Sie 20 Jahre im Amt. Respekt, so lange hat noch keiner ihrer Vorgänger ausgehalten. Woran liegt das?

Thomas Karmasin (lacht): Mir gefällt es immer besser.

War 2015 das schwerste Jahr Ihrer Amtszeit? Ihre Klagen, in die Sie Ihre Mitarbeiter einbeziehen, über die Überlastung infolge der Flüchtlingskreise sind beispiellos.

Ja, es war in gewisser Weise eines der schwersten, weil es eines der schwersten für das Amt war. Für mich blieb wenig Raum für Kommunalpolitik. Ich war fast nur staatlicher Landrat, der das Schicksal des Amts und der Mitarbeiter teilt.

Sie stellen sich also den Herausforderungen.

Es hilft ja nichts. Die Schwierigkeit besteht in der Dauer der Krise, und die Perspektivlosigkeit unterscheidet sie von anderen Krisen.

Es gab mehrere Zuspitzungen der Flüchtlingskrise. Seit im Landkreis Turnhallen belegt werden, steigt der Unmut. Haben Sie sich mal gewünscht, nichts mehr mit dem Thema zu tun zu haben?

Das wünschen sich alle. Aber so ist nun mal die Aufgabe. Man muss die Aufgaben bewältigen, wie sie kommen. Das war immer mein Ansatz.

Was ist der Lohn für diese Beharrlichkeit? Ärger mit Bürgern, Ärger mit Bürgermeistern, Ärger mit Mitarbeitern?

Mit den Mitarbeitern nicht mal. Es ist erstaunlich, wie tapfer die die Zähne zusammenbeißen und ihre Aufgabe erfüllen. Schon deswegen kann der Chef nicht flüchten. Das mit den Bürgern hält sich die Waage. Ich bekomme auch viel Zuspruch und erfahre viel Mitgefühl.

Gab es besonders im Spätsommer und Herbst Momente, in denen sie gedacht haben, jetzt geht es nicht mehr?

Ja, das denke ich jeden Tag. Irgendwie geht es dann doch immer wieder. Ich stelle aber mit Betrübnis fest, dass alles, was ich prognostiziert habe, wenig später durch die amtliche Statistik bestätigt wird. Das ist eines der Themen, bei dem man nicht so gerne recht hat.

Trotz Ihres Pessimismus' läuft es bisher im Landkreis doch relativ gut und reibungslos. Waren Ihre Warnungen übertrieben?

Das glaube ich nicht. Dass man Katastrophen gut managt, heißt nicht, dass die Katastrophen gut sind. Die echte Herausforderung kommt erst noch. Momentan befinden wir uns noch im Notfallmodus. Menschen in Turnhallen unterzubringen, ist noch keine Lösung für die Zukunft.

Als Kritiker der Kanzlerin Merkel und der offenen Grenzen konnten sie sich bundesweit in Medien profilieren. Spielen Sie nicht doch etwas damit, populistische Erwartungen zu bedienen?

Nein. Ich war in keiner Talkshow, bin aber dankbar für jede mahnende Stimme, die sich dort erhebt. Ich verbreite auch keine Parolen, sondern stelle die Situation nur so dar, wie ich sie täglich wahrnehme.

Die SPD wirft Ihnen vor, mit der Bezeichnung von Kosovaren als Winterurlaubern und Ihrem Vergleich des Flüchtlingszustroms mit einer gesellschaftlichen Katastrophe zu zündeln. Was tragen solche Zuspitzungen zur Problemlösung bei?

Politik muss in der Lage sein zuzuspitzen, um Dinge zu verdeutlichen. In der Sache nehme ich kein Jota weg. Dass Zuwanderer aus dem Kosovo nicht bedroht sind, ist mittlerweile Konsens. Ich halte die Aufnahme so vieler Flüchtlinge für eine extreme gesellschaftliche Herausforderung. Diese wäre bei einer sofortigen Zuwanderungsbegrenzung vielleicht zu schaffen. Ich kann nicht sagen, wie die Katastrophe genau aussehen wird. Ob Rechtsradikale oder Parallelgesellschaften die Oberhand gewinnen. Ich halte es insgesamt für ein Demokratieproblem, die Gesellschaft so nachhaltig zu verändern, ohne demokratisch entscheiden zu lassen, ob dieses Land das will.

Merkel, die Sie in Berlin ja gesprochen haben, vertritt mit der Aussage "Wir schaffen das" die Gegenposition. Ist die Bundeskanzlerin zu menschlich, zu naiv?

Das würde ich nie sagen. Aber ich habe bis heute nicht verstanden, was sie damit meint. Was genau schaffen wir eigentlich?

Eines ist anzuerkennen. Mit ihren Flüchtlingsprognosen lagen Sie immer richtig. Wie viele zusätzliche Asylbewerber werden im Dezember 2016 im Landkreis leben?

Etwa 2500. Ich gehe von folgenden Parametern aus. Den Syrienkrieg wird man nicht so schnell gewinnen und man wird weiterhin die Grenzen nicht schließen. Also wird der Zustrom zunächst gleich bleiben. Dann kommen drei Landtagswahlen, danach wird man aufwachen. Die Bundespolitik wird erkennen, dass die Stimmung nicht so ist, wie viele etablierte politische Parteien denken. Erst dann wird man überall in Deutschland konsequent handeln. Danach wird die Zuwanderung abflachen. Im Jahr 2016 rechne ich für Deutschland mit 700 000 bis 800 000 neuen Flüchtlingen.

Das wären schon mal weniger. Ist das zu schaffen?

Wenn wir die Shelter, also ehemalige Flugzeugbunker im Fliegerhorst, in Betracht ziehen - Turnhallen haben wir ja nicht mehr viele - und wenn wir an Tiefgaragen denken. Im Sommer kann man vielleicht mit Zelten arbeiten. 2016 wird sicher ein schwieriges Jahr, dann wird man zur Vernunft kommen und es wird sich etwas ändern. Es werden ja auch Menschen zurückgeführt und viele Zuwanderer werden erkennen, dass ihre Erwartungen nicht in Erfüllung gehen.

Sie wissen, dass die Gemeinden keine Möglichkeit haben, obdachlosen anerkannten Flüchtlingen eine Wohnung zu verschaffen. Trotzdem wollen Sie diese Menschen rigoros aus den Landkreis-Unterkünften rauswerfen?

Das kommt eines Tages. Wir haben schon etliche Bescheide verschickt. Wir brauchen die Plätze für neu zugewiesene Flüchtlinge. Im Prinzip ist es egal, wer keine Plätze zur Verfügung hat, der Landkreis oder die Kommunen.

Eigentlich holen beide, den Landkreis und die Kommunen, in der Wohnungsfrage jetzt die Versäumnisse der Vergangenheit ein. Seit Jahren fehlen im Landkreis Sozialwohnungen und günstige Mietwohnungen.

Da unterscheiden wir uns etwas in der Analyse. Der Markt ist eng, das bestreite ich nicht. Aber unsere Landkreisbürger haben alle Wohnungen, bis auf wenige Ausnahmen. Vielleicht nicht genau die, die sie sich wünschen, vielleicht kann auch nicht jeder mit 18 von zu Hause ausziehen, aber die Menschen wohnen. Auch kann ich mir vorstellen, dass man gezielt für solche Menschen Wohnungen baut, die wir brauchen, etwa Krankenschwestern, Verwaltungsangestellte oder Erzieherinnen. Von Versäumnissen zu sprechen, ist nicht richtig, denn die 500 Wohnungen, die wir jetzt jährlich für anerkannte Flüchtlinge benötigen, hätten wir nie auf Halde gebaut.

Statt etwas zu tun, wird darüber gestritten, wer wo neue Wohnungen bauen und finanzieren soll. Wäre es nicht ein überfälliges politisches Signal für andere, dass der Landrat solche Initiativen fördert?

Nach der Rechtslage ist ein Landkreis nun mal nicht für den Wohnungsbau zuständig, das sind die Kommunen.

Und wenn das in einem größeren Raum, also in der Metropolregion, geschieht, die Ingolstadt, Augsburg und Rosenheim einschließt?

Dagegen hätte ich nichts.

Wie viele Wohnungen fehlen Ihrer Ansicht nach für Flüchtlinge und für andere?

Das ist eine politische Entscheidung. Wohnungen fehlen perspektivisch vor allem deshalb, weil 300 000 Menschen in die Region München zuziehen wollen. Ich habe natürlich nichts dagegen, wenn Gemeinden im Rahmen ihrer Planungshoheit sagen, wir wünschen uns diesen Zuzug und bauen günstige Wohnungen. Man muss aber nicht automatisch auf jeden Bedarf mit dem Bedarfsdeckungsreflex reagieren. Neue Straßen bringen auch neuen Verkehr. Neue Wohnungen bringen auch neuen Zuzug.

Was brachte 2015 dem Landkreis außer Flüchtlingen noch?

Wir halten an unseren strategischen Überlegungen fest und führen die Struktur- und Potenzialanalyse für den Landkreis weiter durch. Zu den wichtigsten Überlegungen gehört die Frage, wie sich der Landkreis langfristig ausrichten und entwickeln soll. Das beinhaltet auch den Wohnungsbau, den Verkehr, den Tourismus, das Gewerbe.

Wo wollen sie investieren?

Unterschätzt werden unsere Renovierungsarbeiten im Landratsamt und bei den weiterführenden Schulen. Trotz Flüchtlingskrise laufen diese Investitionen weiter. Im Herbst 2016 soll mit dem Neubau der Berufsschule begonnen werden. Noch fehlt aber die Baugenehmigung.

Was hat für sie im neuen Jahr Priorität?

Das große Projekt ist die Berufsschule. Dann wird man über eine zweite Fachoberschule im Landkreis nachdenken müssen und Entscheidungen treffen. Hier sollten sich auch andere Landkreise beteiligen, insbesondere Starnberg. Der Bau einer Starnberger Fachoberschule würde uns zwar etwas entlasten, aber einer weiteren Fachoberschule in Germering nicht im Weg stehen.

Das Gemeinsame Kommunalunternehmen für Abfallwirtschaft (GfA) wollen Sie, wie kürzlich erklärt, auf jeden Fall nicht zu einem Energieversorger umbauen. Waren die diesbezüglichen Diskussionen der vergangenen Jahre im Kreistag dann nicht für die Katz'?

Der Landkreistag hat sich bemüht, eine Zuständigkeit der Landkreise für die Energieversorgung zu bekommen. Das wollte der Gemeindetag nicht. Das GfA kann die Energie nutzen, die bei der Abfallverwertung anfällt. Zudem gibt es Überlegungen, eine Biogasanlage zur Verwertung des Bioabfalls zu bauen. Das wird isoliert nicht gehen.

Sollen also die Gemeinden den Standort der Müllverbrennungsanlage zu einem Energieversorger ausbauen?

Die Gemeinden werden das auch nicht machen können, weil die Anlage ihnen nicht gehört.

Was erwarten Sie sich von der Struktur- und Potenzialanalyse? Die Widersprüche im Landkreis sind groß. Einerseits soll die Kulturlandschaft erhalten werden, andererseits werden Flächen für Wohnungen und Gewerbe gebraucht.

Zunächst ist es wichtig, dass Landkreis und Gemeinden überhaupt an einem Strang ziehen. Das ist ein Vorteil. Was günstigen Wohnraum angeht, gebe ich eines zu bedenken: Über Jahrzehnte haben wir mit Landwirten über jeden Quadratmeter Fläche im Außenbereich verhandelt, der bebaut werden soll. Deshalb kann ich nicht einsehen, dass nun in Barackensiedlungen im Außenbereich massenhaft Menschen untergebracht werden sollen.

Kann eine bessere Vernetzung mit mehr interkommunaler Zusammenarbeit helfen, die Zukunftsaufgaben zu bewältigen?

Viele Dinge sind künftig überregional zu betrachten. Bei der Windkraft waren wir im Landkreis sehr weit, bis die Landespolitik einen anderen Weg einschlug. Bei der Flüchtlingsfrage haben wir mit einer freiwilligen Quote zur Unterbringung wieder erreicht, dass alle Gemeinden in einem Boot sitzen. Nur wird eine Quote bei der Unterbringung von anerkannten Asylbewerbern nicht weiterhelfen, weil diese Freizügigkeit genießen und überwiegend in die Städte oder Stadtnähe ziehen werden.

Ist in der viel größeren Metropolregion der Zuwachs zu bewältigen, den der Ballungsraum München nicht mehr schultern kann?

Die Entwicklung muss ja auch strukturell harmonisch sein. In der Metropolregion ist auch der Landkreis Rottal. Trotzdem können wir nicht sagen, Münchens Wohnraum entsteht auf den grünen Wiesen des Bäderdreiecks.

Haben Sie nach fast zwanzig Jahren im Landratsamt nicht doch Lust auf andere politische Aufgaben? Genug Erfahrung hierfür hätten sie.

Auch den nötigen Humor (lacht). Im Bundestag hat sich Gerda Hasselfeldt noch gar nicht erklärt, ob sie weitermacht. Sowohl sie als auch Reinhold Bocklet sind hervorragende Persönlichkeiten in herausragenden Ämtern. In die rückt man ja nicht ein, sondern man ist dann ganz normaler Abgeordneter, der sich hinten anstellt. Das ist auch eine schöne Aufgabe, ja, aber ich bin einfach gerne hier.

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