Sexuelle Gewalt gegen Kinder:"Die Opfer spüren, dass das niemand hören will"

Kind in einem dunklen Gang, 2011

Gerade das Erleben von sexuellem Missbrauch lässt Kinder einsam zurück: Scham und zerstörtes Vertrauen in Erwachsene sind häufig Gründe dafür, über das Erlittene zu schweigen.

(Foto: Catherina Hess)
  • Das Jugendamt des Landratsamts Fürstenfeldbruck bietet Kindern und Jugendlichen, die von sexueller Gewalt betroffen sind, ein spezielles Beratungsangebot an.
  • Das Jugendamt kooperiert mit zwei Einrichtungen in München, von denen sich die eine, nämlich "Kibs", auf Buben und die andere, "Imma", auf Mädchen mit Gewalterfahrungen spezialisiert hat.
  • Erzieher, Lehrer, Erziehungsberechtigte, aber auch die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, also auch das Jugendamt, geraten in diesem speziellen Bereich "oft an ihre Grenzen".

Von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Es gibt Vorfälle und Themen, die einen verunsichern und sprachlos machen. Ein solcher Bereich ist sexuelle Gewalt, vor allem wenn sie sich gegen Kinder und Jugendliche richtet. Da Sprachlosigkeit und das damit verbundene Verdrängen, Vertuschen und Wegschauen jedoch nicht weiterhelfen, vor allem nicht den traumatisierten Opfern, und die Täter sogar indirekt schützt, bietet das Jugendamt des Landratsamts Fürstenfeldbruck mit "Kim" von sexueller Gewalt Betroffenen seit 2008 ein spezielles Beratungsangebot an. Das wird jährlich von etwa 80 bis 100 Kindern und Jugendlichen genutzt. Zudem leistet Kim Präventionsarbeit, so werden regelmäßig Erzieher geschult. Zum besseren Schutz der Kinder will das Jugendamt die Präventionsarbeit intensivieren.

Diese Präventionsarbeit steht jedoch für mehr als nur Schutz. Es geht um Verständnis für die Ängste und Probleme der Opfer, Achtsamkeit und Sensibilisierung für ein heikles Thema. Es soll vermittelt werden, dass Betroffene und deren Angehörige schnell professionelle Hilfe bekommen, und was jeder dazu beitragen kann. Immerhin gelten sexuelle Übergriffe und Missbrauchstaten als alltägliches Delikt.

Eine Statistik der dem Jugendamt gemeldeten Fälle führt dessen Leiter Dietmar König nicht. König nimmt jedoch an, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder sitzen, die sexuelle Gewalt erfahren. Wobei die Übergänge fließend sind. Nicht alles ist strafbar. Zudem steht das Kindeswohl oft einer Anzeige entgegen, und Kinder und Jugendliche können auch Täter sein, und zwar nicht nur bei erweiterten Doktorspielen. König ist sich nur in einem sicher, was auch die Polizei bestätigt, die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein.

Auffällig ist, wie sehr sich Königs Schätzung von der Zahl der Fälle unterscheidet, in denen Beamte der Kriminalpolizei Fürstenfeldbruck im Jahr 2016 aufgrund einer Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern bis zum vollendeten 14. Lebensjahr ermittelt haben. Der für diese Delikte zuständige Kommissariatsleiter Volker Krahn spricht von zehn Fällen im Landkreis, in den Jahren zuvor waren es 13 oder 14 Fälle. Bei Jugendlichen, also den 14-bis 18-Jährigen, fällt sexueller Missbrauch laut Krahn jedoch kaum noch ins Gewicht. Stefan Port berät Kinder und jugendliche Opfer von sexueller Gewalt. Er geht davon aus, dass, wenn überhaupt, nur etwa fünf Prozent der Übergriffe angezeigt werden, weshalb für ihn sexuelle Gewalt immer noch ein gesellschaftliches Tabu ist.

Die Gründe für die unterschiedliche Wahrnehmung sind vielfältig. Wer sich mit dem tabuisierten Thema befasst, begibt sich auf ein schwieriges Terrain und sieht sich nicht nur mit spärlichen Fakten - Missbrauch hinterlässt häufig keine sichtbaren Spuren -, sondern vor allem auch mit vielen Emotionen konfrontiert. Da es auch um Schuld, Scham, Ängste, Ohnmacht, belastete familiären Beziehungen sowie immer wieder auch um die Angst vor falschen Verdächtigungen geht, fällt es selbst Außenstehenden schwer, einen klaren Kopf zu behalten und sachlich zu bleiben.

Auch das ist ein Grund für die Sprach- und Hilflosigkeit, die gleichermaßen für die Opfer wie auch für deren Umfeld und die Gesellschaft gilt. Weshalb das Jugendamt auf professionelle Hilfe setzt und mit zwei Einrichtungen in München kooperiert, von denen sich die eine, nämlich "Kibs", auf Buben und die andere, "Imma", auf Mädchen mit Gewalterfahrungen spezialisiert hat. An Kibs und Imma können sich neben den Opfern auch deren Angehörige oder Fachkräfte wie Erzieher, Lehrer und Trainer wenden. Da Anonymität in einer derart heiklen Angelegenheit dem Mut zuträglich ist, kann das auch anonym geschehen.

Diese Anonymität eines geschützten Raumes schätzen auch die Opfer. "Die Opfer spüren, dass das niemand hören will", sagt Stefan Port, Mitarbeiter von Kibs. Es ist auch die Angst vor den Folgen des Redens über Übergriffe, die belastet, die Angst, den Eltern Sorgen zu bereiten. Könnte doch die Familie oder Ehe der Eltern an dem Konflikt in die Brüche gehen. Weitere Brisanz bringt die Tatsache, dass die meisten Übergriffe im sozialen Umfeld der Opfer passieren. Also in der Familie, im Freundeskreis, in Schulen, in Vereinen, in Jugendeinrichtungen. Häufig mit Vertrauenspersonen als Tätern, die sich in einer Machtposition befinden.

"Welche Familie will solche Sachen an die Öffentlichkeit bringen?"

Mit der sozialen Nähe von Opfern und Tätern begründet denn auch Kommissariatsleiter Krahn, die hohe Dunkelziffer. "Welche Familie will solche Sachen an die Öffentlichkeit bringen?", fragt er. Zudem fehle denjenigen, die Anzeichen auf einen Missbrauch entdecken, häufig die Gewissheit. Noch etwas ist für sexuelle Gewalt typisch. Erzieher, Lehrer, Erziehungsberechtigte, aber auch die Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, also auch das Jugendamt, geraten laut König in diesem speziellen Bereich "oft an ihre Grenzen".

Da es schwierig und belastend ist, sich damit auseinanderzusetzen, lasse man es eben bleiben. Was die falsche Reaktion ist. Wer ein komisches Gefühl habe, wer gravierende Verhaltensänderungen feststelle, solle sich trauen, professionelle Hilfe zu suchen, sagt Imma-Beraterin Andrea Bergmayr. Prävention beinhaltet denn auch vor allem Stärkung der Kinder, Aufklärung, Achtsamkeit, den Appell, Zivilcourage zu zeigen, und die Sensibilisierung der Erzieher und des Umfelds für Verhaltensauffälligkeiten und Veränderungen von Kindern, deren Ursache in Gewalterfahrungen liegen könnte.

Ulrike Tümmler-Wanger leitet Kibs. Als Fachberaterin für von sexueller Gewalt betroffenen Buben musste sie selbst erst einen Lernprozess durchleben, bis ihr bewusst wurde, wie solche Erfahrungen Kinder und Jugendliche verändern. Die Sozialpädagogin arbeitete zuerst mit verhaltensauffälligen, schwer erziehbaren männlichen Jugendlichen. Dabei merkte sie, dass sie fast keinen Zugang zu den Jugendlichen fand, weil sie, wie sie rückblickend feststellt, keine Ahnung hatte, was mit ihnen passiert war. Erst eine zusätzliche Ausbildung ließ sie erkennen, was eine der Hauptursachen der Verhaltensauffälligkeiten war.

Viele der Jugendlichen, mit denen sie arbeitete, hatten sexuelle Gewalt erfahren. Die Beraterin weiß, dass solche Erlebnisse nicht zwangsläufig zu schwerer Erziehbarkeit führen müssen. Aber die verhaltensauffälligen Jugendlichen hatten eines gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen, um die sie sich inzwischen kümmert. Sie hatten sexuelle Gewalt erfahren. Die Arbeit von Tümmler-Wanger mit den Opfern ist dann erfolgreich, wenn es ihr gelingt, deren Vertrauen zu gewinnen, eine Beziehung aufzubauen und damit deren Schweigen zu brechen. Da die Täter das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen und ihre Macht über sie missbraucht haben, ist das nicht einfach.

Stefan Port und Ulrike Tümmler-Wanger bezeichnen es als Ziel ihrer Arbeit, es den Betroffenen zu ermöglichen, ein weitgehend "normales" und unbelastetes Leben zu führen. Ganz vergessen könne man solche Erlebnisse nicht, aber man könne sie ins Leben integrieren und damit Ängste, Traumata, Aggressionen sowie Schlaflosigkeit und andere Folgen bewältigen. Als häufiges Missverständnis bezeichnet Port die Befürchtung, dass Buben als Opfer von sexueller Gewalt später selbst übergriffig werden könnten.

Zum zehnjährigen Bestehen von Kim lädt der Landkreis Erzieher, Lehrer und Jugendliche am Donnerstag, 1. Februar, zu zwei Fachvorträgen, einer Ausstellungseröffnung und einer Podiumsdiskussion ins Landratsamt. Kontakt zu den Beratungsstellen: Imma, Beratungsstelle für Mädchen und junge Frauen, Telefon 089/260 75 31, E-Mail beratungsstelle@imma.de. Kibs, Kinderschutz München, Beratungsstelle für Jungen und junge Männer, Telefon: 089/23 17 16 91 20, E-Mail mail@kibs.de.

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