Hartz-IV-Abzüge:"Ich finde 30 Prozent richtig"

Claudia Baubkus, 2019

Claudia Baubkus hält die Mitwirkungspflicht für richtig.

(Foto: Matthias F. Döring)

Claudia Baubkus, die Leiterin des Jobcenters, erklärt, warum Sanktionen für Arbeitslose manchmal sinnvoll sein können

Interview von Karl-Wilhelm Götte

Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich die Hartz IV-Sanktionspraxis, einen Strafenkatalog, den die Jobcenter bis zum Wegfall jeglicher Leistung vollzogen haben, zum großen Teil für verfassungswidrig erklärt. Über 900 000 Sanktionen gab 2018 in Deutschland, davon 34 000 Vollsanktionen; also kein Essen und keine Wohnung mehr, inklusive Wegfall der Krankenversicherung. Das Existenzminimum, das der Hartz IV-Regelsatz vorgibt - momentan in Höhe von 424 Euro für Alleinstehende - darf laut Urteil nur noch maximal um 30 Prozent gekürzt werden. Die SZ sprach mit der Brucker Jobcenter-Geschäftsführerin Claudia Baubkus über das Urteil und die Konsequenzen, die das Jobcenter mit seinen etwa hundert Mitarbeitern daraus zieht.

SZ: Wie sehen Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?

Baubkus: Ich bin froh über das Urteil, das enge Korsett der "Sanktionen" ist aufgeschnitten. Drastische Kürzungen von Hartz IV-Leistungen sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und ab sofort nicht mehr zulässig. Hartz IV ist kein Randthema, sondern zieht sich durch die Mitte der Gesellschaft.

Wie sah die Sanktionspraxis im Brucker Jobcenter bisher aus?

Unser Handeln war noch nie auf Sanktionen ausgerichtet. Bei Einzelnen brauchten und brauchen wir diese aber, wenn sie sich ihrer Mitwirkungspflicht entzogen. 71,9 Prozent der Sanktionen betrafen Meldeversäumnisse - die Betroffenen hatten den vereinbarten Termin im Jobcenter nicht wahrgenommen.

Ist das Jobcenter telefonisch erreichbar, damit sich jemand entschuldigen kann, wenn ein Meldetermin aus triftigem Grund nicht stattfinden kann?

Ja, seit 2018 haben wir ein Service-Center, das eine hohe Erreichbarkeit für unsere Kunden gewährleistet. Man kann uns aber auch eine Mail schreiben.

Die Jahresstatistik für Fürstenfeldbruck besagt, dass 2018 531 Sanktionen verhängt, also Menschen mit Geldkürzungen bestraft wurden.

Neben den schon erwähnten Meldeversäumnissen waren die weiteren Sanktionsgründe vor allem die Weigerung der Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Maßnahme. Davon waren 13 Prozent betroffen gewesen.

337 Menschen waren 2018 von den 531 Sanktionen betroffen, einige Bezieher wurden also mehrfach sanktioniert. Wie viele waren das?

Im Jahr 2018 waren durchschnittlich 98 erwerbsfähige Leistungsberechtigte pro Monat mit mindestens einer Sanktion belegt. Darunter waren durchschnittlich 18 Personen mit zwei oder mehr Sanktionen belegt.

Sanktionen sparen den Jobcentern viele Millionen Euro ein. Wie hoch ist die Sanktionsquote im Brucker Jobcenter?

Unsere Sanktionsquote beträgt bisher acht bis zehn Prozent. Das ist in etwa auch der bundesweite Durchschnitt. Wir haben bei harten Sanktionen auch schon vor der Urteilsverkündung in der Regel zugunsten des Kunden entschieden. Wir wollen eine Vertrauensbasis mit den Menschen schaffen. Da hat es wenig Sinn, zuvor das Tischtuch zu zerschneiden.

Welche Personen betreuen Sie im Jobcenter?

Wir haben 2018 durchschnittlich etwa 3600 Bedarfsgemeinschaften betreut: Darunter befinden sich 1845 Single-Bedarfsgemeinschaften, 738 Alleinerziehende, 626 Partner-Bedarfsgemeinschaften mit Kindern sowie Partner-Bedarfsgemeinschaften ohne Kinder. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte werden im Landkreis ungefähr 5000 betreut.

Wie viele davon sind langzeitarbeitslos?

Arbeitslos sind 1154 Personen. Etwa 75 Prozent der SGB II-Bezieher sind Personen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, vom Verdienst aber nicht leben können. Aber auch Personen, die sich in Schule, Studium oder Ausbildung befinden, der Erziehung von Minderjährigen oder der Pflege von Angehörigen nachgehen, vorübergehend arbeitsunfähig sind oder an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilnehmen. Viele Menschen sind dabei, die nach Krankheit oder Scheidung Schicksalsschläge erlebt haben und nicht mehr aus eigenen Kräften und Mitteln ihren Lebensunterhalt bestreiten können.

Wie viele Personen gibt es, die von ihrer Vollzeitarbeit nicht leben können und zusätzlich Hartz IV bekommen?

Das sind 358 Leistungsberechtigte, also knapp acht Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Tendenz steigend aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten, insbesondere der hohen Mieten. Das ist eine bedenkliche Entwicklung.

Ein wesentlicher Sanktionsgrund war bisher die Verweigerung einer so genannten Maßnahme. So musste eine Schauspielerin einen PC- oder einen Buchhaltungskurs machen. Sind solche Maßnahmen sinnvoll?

Soweit eine Schauspielerin über längere Zeit kein bedarfsdeckendes Einkommen erzielt, erfolgt eine Strategieänderung, die beinhaltet, dass sie sich beruflich umorientieren muss, um ihre Hilfebedürftigkeit zu verringern oder zu beenden. Der Besuch von Qualifizierungsmaßnahmen wie hier PC- oder Buchhaltungskurs ermöglicht die Aufnahme einer Tätigkeit im kaufmännischen Bereich, in dem viele Stellenangebote offen sind.

Wie weit gingen die Sanktionen im Brucker Jobcenter?

In der Regel waren es Sanktionen zu 30 und 60 Prozent. Bei "Totalverweigerern", die jegliche Mitwirkung versagten, kam es zu einem vollständigen Wegfall der Regelleistung. Wir sahen es immer als skeptisch an, die Miete zu kürzen. Drohende Wohnungslosigkeit hilft niemandem weiter.

Nach heutigem Stand blieben dem Hartz IV-Bezieher dann noch 43,40 Euro monatlich zum Leben.

Wird der Regelbedarf um mehr als 30 Prozent gekürzt, gewähren wir auf Antrag und nach Ermessen ergänzende Sachleistungen als Zuschuss, insbesondere in Form von Lebensmittelgutscheinen in Höhe von 50 Prozent des vollen Regelbedarfs, also 216 Euro. Die Gutscheine werden von den Supermärkten akzeptiert; Alkohol und Zigaretten dürfen davon nicht gekauft werden.

Gab es auch hundertprozentige Sanktionen, so dass auch die Miete nicht mehr gezahlt wurde?

Sogenannte "Vollsanktionen", die mit einer Absenkung der Kosten der Unterkunft einhergehen, wurden im Einzelfall angedroht, final nicht umgesetzt, weil es niemandem hilft, wenn er das Dach über dem Kopf verliert. Manchmal ist es aber die Androhung die Ultima Ratio, um den Menschen an unseren Tisch zu bekommen. Hier haben wir erfolgreiche Beispiele.

Es gab aber auch den Fall einer alleinerziehenden 27-jährigen Mutter eines siebenjährigen Kindes, die keinen passenden Hortplatz fand und der 2018 öffentlich wurde. Nach einer 90-prozentigen Kürzung des Regelsatzes stand sie vor der Obdachlosigkeit...

Die Kundin hat jede Mitarbeit verweigert, ist weder zu Terminen erschienen, noch hat sie sich auf vorgeschlagene Stellen beworben. Über die Einschaltung der Beauftragten für Chancengleichheit bei uns im Jobcenter erhielt sie ein Intensivcoaching. Heute ist sie als Arzthelferin in Teilzeit tätig. Der Lebensunterhalt wurde kurzfristig durch Lebensmittelgutscheine sichergestellt und die Wohnung in Kooperation mit der Fachstelle Wohnen durch die Übernahme der Mietschulden und der laufenden Miete durch das Jobcenter gewährleistet. Sie konnte ihre Wohnung behalten und wohnt dort bis heute.

Wie setzen Sie das Urteil jetzt um?

Bereits beschiedene und noch laufende Sanktionen für Erwachsene über 25 Jahre, die über 30 Prozent des Regelbedarfs hinausgehen, werden mit Wirkung zum 5. November 2019 aufgehoben und auf maximal 30 Prozent begrenzt. Das sind nur wenige Vorgänge bei uns. Sanktionen, über die noch nicht entschieden wurde, werden sofort auf maximal 30 Prozent des Regelbedarfs begrenzt. Inwieweit sich die Regeln auf unter 25-Jährige auswirken, wird derzeit mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) abgestimmt.

30 Prozent bedeuten eine Kürzung um 127 Euro. Vom Rest, 297 Euro, müssen nicht nur Lebensmittel, sondern alle Fixkosten, wie Versicherungen, Verkehr oder Strom bezahlt werden. Halten Sie 30 Prozent Abzug für richtig?

Ja, ich halte die 30 Prozent für richtig. Die Mitwirkungspflicht des Leistungsbeziehers wurde durch das Urteil bestätigt und das Prinzip des "Fördern und Forderns" bleibt unangetastet. Außergewöhnliche Härten sind nun zu berücksichtigen, und wenn die Pflichten ernsthaft und glaubhaft nachgeholt werden, ist die starre Dauer von drei Monaten unzulässig und wird nach einem Monat enden. Wer vereinbarte Termine nicht wahrnimmt, sich nicht bewirbt oder etwa Qualifizierungen nicht antritt, wird vorher immer durch den zuständigen Ansprechpartner angeschrieben, angerufen und hat die Möglichkeit, sich zu äußern und wichtige Gründe darzulegen. Aus meiner Sicht ist die Grundsicherung ein soziales Grundrecht, das an zumutbare Mitwirkungspflichten geknüpft ist.

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