Süddeutsche Zeitung

Kultur:Eine letzte Mahnung

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Kurz nach dem Tod des Künstlers Guido Zingerl erscheint nun noch einmal ein Buch mit seinen Arbeiten. Es trägt den passenden Titel "Kassandrarufe".

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Nur wenige Wochen vor seinem Tod Ende Februar hat der Künstler Guido Zingerl noch einmal eines seiner Künstlerbücher fertiggestellt. Nun erscheint die Sammlung mit vielen aktuellen und einigen historischen Arbeiten und sie könnte keinen passenderen Titel tragen: "Kassandrarufe". Ebenso wie die tragische Figur aus der griechischen Mythologie hat Zingerl sein Leben lang vor dem Unheil, auf das die Gesellschaft zusteuert, gewarnt und wurde doch genauso selten gehört. So wird das Buch zum posthumen künstlerischen Nachlass, zur letzten Mahnung aus der stets spitzen Feder Zingerls. Vorgestellt wird das Buch bei einer Trauerfeier für den verstorbenen Künstler am Sonntag, 26. März, von 11 Uhr an in der Halle der Hans-Kiener-Stiftung, Münchner Straße 3, in Fürstenfeldbruck.

Zum titelgebenden Leitmotiv wird ein Acrylgemälde aus dem Jahr 2020. Links unten im Bild ist dabei eine verzweifelte Kassandra zu erkennen, rechts oben ein trojanisches Pferd. Aus ihm strömen Soldaten mit Maschinengewehren, über deren Köpfen eine Kampfdrohne fliegt. Im Hintergrund brennen Städte und es sind viele Opfer von Krieg und Gewalt zu sehen. Zingerl zieht so eine Linie vor der erfolglosen Warnung Kassandras vor dem trojanischen Pferd bis zu den Kriegen der Moderne, die immer eines gemeinsam haben: unsägliches Leid und Zerstörung. Ein weiteres Acrylbild von 2021 verkündet dann "Das Ende des Anthropozän". Verzweifelt stürzen sich darauf die letzten Menschen von einer völlig zerstörten Erde, auf der nichts übrig geblieben ist, als ein paar Geldscheine und Silberbarren.

In einer Reihe von Tuschezeichnungen verarbeitet Zingerl im Jahr 2020 Kindheitserinnerungen. Die Luftangriffe der Alliierten, die Situation der Untermieter im von Wohnungsknappheit geplagten Nachkriegsdeutschland. Und er erinnert in "Such's Kommunistl" (2020) und "Berufsverbot: Meiner Frau und Genossin Ingrid gewidmet" (1974), noch einmal daran, wie er und seine Frau als Kommunisten in der jungen Bundesrepublik quasi zu Staatsfeinden wurden. So wird das Buch gleichzeitig zur persönlichen Erinnerung, es verbindet die Geschichte von Guido Zingerl mit der Deutschlands.

Der Künstler blickt dabei aber nicht nur auf die Spanne seines Lebens zurück, sondern weit in die Geschichte. So findet sich in dem Buch ein Zyklus aus fünf Zeichnungen aus dem Jahr 1975, der an wichtige historische Ereignisse vom 16. bis 19. Jahrhundert erinnert: Den Bauernkrieg 1525, die erste deutsche Demokratie in Mainz 1793, den Weberaufstand 1844, den Berliner Bürgeraufstand von 1848 und den Wahlsieg der SPD 1890.

Ganz aktuell aus dem Jahr 2022 ist eine Serie von Tuschezeichnungen mit dem Titel "Die Heilschreier I-XII" mit einem dazugehörigen Acrylgemälde. Dieses ist ein fünfteiliges Altarbild, in dem noch einmal alles kritisiert wird, was in Zingerls Werk zu finden ist: Kriegslüsterne Kapitalisten, korrupte Geistliche und Militärs. Den arbeitenden Massen bleibt nur die Rolle des schuftenden und konsumierenden Zuschauers. Die dazugehörigen Zeichnungen sind eine kurze Geschichte der Irrungen des deutschen Nationalismus, beginnend mit Kaiser Wilhelm II., über den Zweiten Weltkrieg und das folgende Heilsversprechen durch Kapitalismus und Coca-Cola bis hin zum Einsatz der Bundeswehr im Kosovokrieg. Die letzten Zeichnungen sind dem Ukrainekrieg gewidmet.

Begleitet werden die Arbeiten von Texten von Werner Dreher, einem langjährigen Weggefährten Zingerls, der auch schon die letzten Bücher gestaltet hat. Das Werk endet mit einer berührenden Widmung von Ehefrau Ingrid an Zingerl. Darin heißt es: "Wie viele Jahre, Monate und Tage haben wir gemeinsam, vereint mit anderen, unsere Ängste wie Kassandrarufe auf die Straßen des Landes geschrien. Wie viele Jahre haben wir zu sagen versucht, dass sich nicht wiederholen möge, was wir schon einmal so schmerzhaft erleben mussten. Unsere lauten Schreie der Jugend sind leiser geworden. Und sie sind trauriger geworden".

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