Süddeutsche Zeitung

Gröbenzell:Als wäre nichts passiert

Das Theater TiG spielt Thomas Vinterbergs "Fest", in dem es um sexuellen Missbrauch und die Reaktion der Gesellschaft geht. Das Publikum ist gefordert, Stellung zu beziehen.

Von Clara Dünkler, Gröbenzell

Die korpulente Gestalt von Helge Klingenfeldt (Günther Bülig) beugt sich hinunter zu ihrer Tochter Christa (Luisa Bogenberger). Er überragt sie nicht nur aufgrund der Körpergröße, sondern zusätzlich, weil Helge auf der Bühne und die junge Frau davor auf dem Boden stehen. Wie es ihr gehe, möchte er wissen. Eine mehr als unangebrachte Frage, bedenkt man, dass Christa kurz zuvor in ihrer Rede vor Familien und Freunden offenbarte, dass ihr Vater sie und ihren Zwillingsbruder Leo als Kinder regelmäßig vergewaltigt hat. Der Lichtkegel ruht auf Vater und Tochter, im dunklen Hintergrund sitzen die anderen am Tisch, schweigend. Sie scheinen nichts von der Unterhaltung der beiden zu hören. "Du musst mir helfen", sagt Helge zu seiner Tochter.

Das Theater in Gröbenzell (TiG) führt bei der Premiere von "Das Fest" des dänischen Drehbuchautoren Thomas Vinterberg ein Drama auf, das zunächst bewusst auf die falsche Fährte einer Komödie lockt. Der Hotelier Helge Klingenfeldt veranstaltet zu seinem 60. Geburtstag ein Fest. Der Alkohol fliest, gelöst wird gesungen und getanzt. Neben seinen drei erwachsenen Kindern Christa, Helene (Heike Maltan) und Michael (Timothy Robb), sind auch Ehefrau Else (Monika Sailer), seine Mutter (Barbara Chlumsky) und sein Ziehsohn Hermann (Jutta Hatzold) gekommen. Ehrengast ist neben dem Jubilar, der Landrat (Ludwig Gruber), der sich auf der Feier des geschätzten Mitbürgers zeigen möchte.

Die Stimmung droht zu kippen, als Christa in ihrer Rede den Vater der Vergewaltigung anklagt. Keiner reagiert auf ihre Anschuldigung. Kurzes Schweigen. Dann geht das Fest einfach weiter, als sei nichts gewesen. Alle scheinen erleichtert, als Christa beschließt, zu gehen. Doch sie kehrt zurück und versucht erneut die Verbrechen ihres Vaters vorzubringen. Ihre Familie deutet an, dass sie verrückt sei. Leo ist nicht mehr da, um sie zu unterstützen. Er hat sich vor einem halben Jahr das Leben genommen.

Die Schauspielerinnen und Schauspieler und Regisseurin Ariela Bogenberger widmen sich mit dem "Fest" einem herausfordernden Stück. Es bedarf viel Mut, sich mit den tabuisierten Themen wie Suizid und sexuellem Missbrauch in künstlerischer Form auseinanderzusetzen. Bis auf Luisa Bogenberger sind die Mitglieder der Gruppe Laien, Theaterspielen ist ihr Hobby. Keiner kann jedoch sagen, dass sich das auf die schauspielerische Leistung auswirkt. Insbesondere überzeugen die drei Geschwister, die während des Stücks eine enorme Entwicklung ihrer Charaktere durchlaufen. Im Kampf des Schweigens wechseln sie die Seite und schließen sich Christa an. Luisa Bogenberger ist für ihre Darstellung der Christa speziell hervorzuheben. Sie schafft es ihre Verzweiflung, ihre Wut und die Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt ist, in einer mitreißenden Weise auszudrücken.

Während auf der Bühne im tatsächlichen und übertragenen Sinne Kämpfe stattfinden, erfährt das Publikum zumindest eine innere Auseinandersetzung. Auch die Zuschauer müssen sich entscheiden, wem sie Glauben schenken - Helge oder Christa. Hermann übernimmt dabei eine Vermittlerrolle und führt alle durch den Abend. Immer wieder durchbricht er die sogenannte vierte Wand und spricht die Zuschauenden direkt an. Sie seien ebenso Gäste des Fests. Einige im Publikum prosten Hermann zu, singen bei den Gesangseinlagen der Familie Klingenfeldt mit oder wippen die Füße im Rhythmus der Musik. Und das auch nachdem das Familiengeheimnis bekannt wurde, nachdem klar ist, dass hier ein Täter gefeiert wird. "Das Fest" hebt die Trennung zwischen Realität und Fiktion auf, das Publikum muss sich fragen, ob es selbst zum Mitläufer wird.

Diese Nähe zur Wirklichkeit hängt mit dem Ansatz Vinterbergs zusammen, der der Dogma-Bewegung angehört. 1995 verfasste er gemeinsam mit weiteren dänischen Regisseuren das Manifest Dogma 95, das sich gegen die Entfremdung von der Wirklichkeit in Filmen richtet. Die Bewegung lehnt Illusionen und technische Effekte ab. Auch das TiG verzichtet auf eine aufwendige Produktion. Das Bühnenbild bleibt einfach, das Stück lebt sowohl von der Geschichte als auch der schauspielerischen Leistung der Gruppe. Der Versuch, ein Gefühl der Realität für die Zuschauenden zu konstruieren, glückt fast durchgehend. Nur einmal schenkt Hausdiener Lars (David Wenzl) aus leeren Flaschen aus. Für einen kurzen Moment bricht das die Illusion der Wirklichkeit und man wird daran erinnert, dass man sich in einer Theateraufführung befindet.

Auch wenn "Das Fest" fiktiv ist, die Themen sexueller Missbrauch und Folgen für die Opfer sind es nicht. Beeindruckend zeigt das TiG, auf welche perfide Art Täter sich in die Rolle des Opfers manövrieren und dabei versuchen, die wahren Opfer zu diskreditieren. Gleichzeitig erzählt die Theatergruppe die Geschichte einer Frau, die bereit ist, sich zu wehren. Auf der Rückseite des Programmhefts informiert das TiG über die Fachberatungsstelle Kim in Fürstenfeldbruck für Kinder, die sexualisierter oder anderen Formen der Gewalt ausgesetzt sind (www.kim-ffb.de).

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