Süddeutsche Zeitung

Grafrath:Natur im friedlichen Miteinander

Bei einer Führung durch den Forstlichen Versuchsgarten in Grafrath räumt der Leiter der bayerischen Landesanstalt mit einem Vorurteil über Neophyten auf: Keine einzige einheimische Pflanze sei durch eine fremdländische invasive Art verdrängt worden

Von valentina finger, Grafrath

Neben dem Kanadischen Judasbaum blüht ein Trompetenbaum aus dem Mississippi-Tal. Um die beiden herum gedeiht der deutsche Unkrautkönig Giersch. Tiefer im Wald besetzt die Goldrute, ebenfalls eingewanderte Kanadierin, eine breite Fläche. Doch auch sie lässt Zwischenräume für heimische Gewächse wie die Brennnessel und das Johanniskraut. In Grafrath herrscht ein friedliches Miteinander zwischen ursprünglich in Bayern beheimateten Pflanzen und sogenannten Neophyten. So bezeichnet man Pflanzenarten, die erst in den vergangenen Jahrhunderten eingeschleppt wurden oder sich durch veränderte Klimaverhältnisse ausgebreitet haben.

Von solchen gibt es im Forstlichen Versuchsgarten in Grafrath eine ganze Menge. Einige davon konnte man zum Abschluss der jährlich Anfang Juli ausgerufenen "Woche des Waldes" im Rahmen einer Themenführung zum diesjährigen Motto Biodiversität kennenlernen. Da wären zum Beispiel der aus der asiatischen Amur-Region stammenden Korkbaum und die großgewachsene Gelbkiefer, die besonders in den Rocky Mountains heimisch ist. Insgesamt wachsen ungefähr 200 fremdländische Baumarten in der 34 Hektar umfassenden Anlage, die Ende des 19. Jahrhunderts von dem damaligen Grafrather Oberförster begründet und von seinem Sohn, dem Waldbauprofessor Heinrich Mayr, ausgebaut und mehrere Jahrzehnte lang geleitet wurde.

Olaf Schmidt kennt sie alle - und weiß alles, was es zu den Bäumen sowie den Insekten und Vögeln darauf zu wissen gibt. Seit 2000 leitet der Forstmann mit den Kenntnissen eines Biologen die Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft, die den Versuchsgarten seit 1994 verantwortet. Neobiota, wie man sich neu verbreitende Lebewesen, also Pflanzen, Pilze oder Tiere, generell bezeichnet, sind seine Leidenschaft. "Die Unruhe, die oft um fremde Arten herrscht, die sich unter unsere einheimischen mischen, ist meist unbegründet", sagt Schmidt. Lediglich für den Menschen oder den Pflanzenschutz, nicht aber die Ökologie selbst, seien sogenannte invasive Arten in der Regel problematisch: "Es existiert kein belegbarer Fall, in dem eine einheimische Art durch die Einführung einer neuen ausgerottet wurde", betont er.

Ein gutes Beispiel hierfür ist das Große Springkraut. Durch Tests konnte die Landesanstalt vor ein paar Jahren nachweisen, dass das ursprünglich aus Ostasien stammende Kraut heimische Bäume wie Fichten und Buchen nicht in ihrem Wachstum einschränkt, sondern für ihr Gedeihen sogar förderlich sein kann. Dennoch wird es verteufelt - und geriet einst auch in den Fokus des NS-Reinigungswahns: Im Dritten Reich wurden Lehrer angehalten, mit ihren Schülern in den Wald zu gehen und diesen "mongolischen Eindringling" auszureißen. Unterbewusst wirke diese Denkweise noch immer nach, sagt Schmidt: "Die Wurzel des Hasses auf fremde Kräuter ist sehr braun, nämlich der Gedanke, unseren deutschen Wald frei von Pflanzen mit Migrationshintergrund zu halten."

1492

Die Grenze, die Neophyten und Archäophyten trennt, ist eine durch und durch menschengemachte. Unter Biologen hat man sich weitestgehend auf eine Definition geeinigt, wonach alle Pflanzen, die vor 1492 von Amerika nach Europa kamen, oder andersherum, als Archäophyten zu bezeichnen sind, und alle erst danach verschleppten als Neophyten. Die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus wurde als Stichtag gewählt, da der Austausch zwischen den Kontinenten von da an zunahm. Auch Gewächse, die aus dem deutschen Baumbestand kaum mehr wegzudenken sind und als einheimisch empfunden werden, gehören zu den Archäophyten. So kamen beispielsweise die Edelkastanie und die Walnuss einst durch die Römer hierher. Ebenso kamen viele scheinbar typisch deutsche Ackerunkräuter erst seit der Jungsteinzeit auf, als die Menschen auch hierzulande anfingen, Landschaften für Ackerbau und Viehzucht zu roden. Dazu gehören der Klatschmohn und die Kornblume. Auch Getreide wie Weizen und Gerste werden dazugezählt oder Früchte wie die Pflaume und die Birne. Die meisten der mitteleuropäischen Archäophyten stammen aus dem mediterranen Raum. Bei Tieren, die sich vor 1492 von einem Gebiet in ein anderes ausbreiteten, spricht man von Archäozoen. Wie bei dem Feldhasen stand auch ihr Aufkommen oft in Zusammenhang mit dem Ackerbau. Eingeschleppte Arten von Lebewesen im Allgemeinen nennt man Archäobiota.sz

Ihm gehe es nicht darum, möglichst viele fremdländische Gewächse einzuführen. Vielmehr sei der Grafrather Versuchsgarten mit seiner Insekten- und Vogelvielfalt ein Beispiel dafür, wie fruchtbar eine ausgewogene Mischung aus heimischen Pflanzen und Neophyten sein kann. Natürlich gebe es den Fall, dass Arten so fern verwandt sind, dass sie von hiesigen Insekten und in der Folge auch von insektenfressenden Vögeln gemieden werden. Solche im Ökosystem nutzlose Pflanzen nennt man ökologische Wüsten. Auch wenn man diese Effekte ernstnehmen müsse, plädiert Schmidt für eine differenzierte Betrachtungsweise. Wer genau hinschaut, erkenne oft, dass die Auswirkungen nicht so schlimm seien, wie oberflächlich angenommen.

Im Versuchsgarten wachsen hauptsächlich Bäume der Nordhalbkugel, zudem vereinzelt aus Südamerika und Australien. Arten aus Afrika können aufgrund des abweichenden Klimas hierzulande kaum gedeihen. Das könnte sich mit dem Klimawandel allerdings ändern. Schon jetzt beobachtet Schmidt, dass wärmeliebende Neophyten in den vergangenen Jahren ein tendenziell besseres Wachstum aufweisen. Andererseits werden einheimische Bäume vielleicht schlechter wachsen, wenn die Temperaturen weiter ansteigen. Die Grafrather Anlage kann folglich auch als Fläche begriffen werden, um ein mögliches zukünftiges Anbauen zu erproben. "Im Mischwald aus heimischen und fremden Arten sehe ich eine Chance im Klimawandel", sagt Schmidt. Besonders große Chancen auf ein reiches Fortbestehen rechnet er zum Beispiel der Edelkastanie und dem Speierling aus.

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Quelle:
SZ vom 09.07.2019
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