Süddeutsche Zeitung

Gesundheit:Immer im Gefahrenbereich

Seit seinem dritten Lebensjahr leidet Julian aus Fürstenfeldbruck unter einer extremen Ausprägung der Erdnussallergie. Aus Rücksicht auf ihn haben sich zwei Schulen in Fürstenfeldbruck zu erdnussfreien Zonen erklärt

Von Johanna Kleinert, Fürstenfeldbruck

Auf dem Weg in den Italien-Urlaub, aus einer Laune heraus, wie Theresa Seidel sagt, kauft sie für ihre beiden Kinder Erdnussflips an der Raststätte. Der damals dreijährige Julian verzichtet, hat keinen Hunger. Zum Glück, wie die 51 Jahre alte Mutter heute sagt. Seine Schwester aber greift zu. Plötzlich hat der Junge starke, nicht endende Niesanfälle. Seidel fährt rechts raus, sieht ihren Sohn an, erschrickt. "Sein Gesicht war grotesk angeschwollen", erzählt sie. Als Ärztin ist ihre Reiseapotheke gut bestückt, sie erkennt die Symptome, eine allergische Reaktion. Das Antiallergikum hilft. Die Schwellung jedoch geht erst nach drei Tagen zurück. Zunächst vermutet Seidel noch eine Pollenallergie. In der Unterkunft angekommen aber wirft sie die Erdnussflips vorsichtshalber in den Papierkorb. Man weiß ja nie, denkt sie sich intuitiv. Dass tatsächlich die Knabbereien verantwortlich für die Niesattacke des Jungen waren, weiß sie damals nicht.

Julian, heute zwölf Jahre und Schüler am Brucker Graf-Rasso-Gymnasium, leidet noch immer unter einer extremen Ausprägung der Erdnussallergie. Das beeinflusst nicht nur sein persönliches Leben, sondern auch den Alltag der Schulen, die er besucht. Als der Bub in die erste Klasse kommt, wird die Grundschule Fürstenfeldbruck Nord zur "erdnussfreien Zone" erklärt. Das Gymnasium zieht nach. Denn schon das Einatmen von Erdnussspuren lässt Julians Körper reagieren. Die Hülsenfrüchte in den Mund zu nehmen - Mikrogramm-Mengen reichen - ist lebensbedrohlich. "Es gibt auch harmlosere Varianten der Erdnussallergie. Julian aber hat eine gefährliche und die in der stärksten Ausprägung", erklärt die zweifache Mutter. Nie kann ihr Sohn das Haus ohne sein Notfallset verlassen. Darin enthalten: Antiallergikum, Kortison, ein Asthmaspray und zwei Adrenalin-Pens für schnelle Injektionen. Bei einem anaphylaktischen Schock rettet lediglich das Hormon Julians Leben. Zu hundert Prozent zuverlässig funktionieren die Pens nur, wenn das Adrenalin innerhalb von wenigen Minuten nach dem Anfall verabreicht wird. Und selbst dann muss der Notarzt spätestens 20 Minuten später am Unfallort sein. Schließlich lässt die Wirkung des Adrenalins bereits nach einer Viertelstunde nach. Mit dem zweiten Pen gewinnt Julian weitere Minuten.

Seidel spricht von Kindergärtnern, die aus Angst, sich strafbar zu machen, nicht injizieren wollten und dem Jungen deshalb den Zutritt zum Kindergarten verweigerten. "Julian musste in den integrativen Kindergarten der Kinderhilfe in Fürstenfeldbruck, weil den Regeleinrichtungen die Verantwortung zu groß war. Und da festgeschrieben steht, dass Integrationskinder sechs Stunden Förderung am Tag brauchen, musste er auch über den Mittag in der Einrichtung bleiben. Obwohl er sowieso nicht mitessen konnte", blickt sie zurück. Fassungslos war sie manchmal schon. "Man hat es sowieso schon schwer und bleibt dann noch permanent zwischen Vorschriften hängen", sagt sie. "Auch für Julian sind und waren das Wahnsinnsbelastungen."

Als Julians Einschulung bevorsteht, sind Einrichtungen für den Umgang mit Schwerstallergikern kaum besser vorbereitet. Doch in den vergangenen neun Jahren habe sich viel getan, sagt Seidel. "Die Grundschule in Bruck gab sich unglaubliche Mühe, wollte alles richtigmachen. Das Kultusministerium riet der Schule damals, dass die Lehrer im Ernstfall keine Medikamente geben sollten. Wie ein sicherer Schulalltag dann aber gewährleistet werden könnte, konnte das Ministerium nicht sagen. Schulamt und Schule haben sich dann auf einen Schulbegleiter geeignet, der das Hormon im Notfall verabreicht. Der verantwortliche Träger, die Caritas, weigerte sich diesen zu stellen, weil auch ihm das Risiko zu hoch war. "Also haben wir kurzerhand selbst eine Person eingestellt, die der Bezirk Oberbayern bezahlt hat", führt sie aus und betont: "Es geht nicht allen Kindern so. Ich bin Ärztin, konnte mich intensiv mit dem Thema beschäftigen. Unser Allergologe hat uns ausführlich informiert, nimmt aber nur Privatpatienten an. Was machen die Familien, deren schwerstallergische Kinder nur kassenversichert sind, die nicht gut aufgeklärt werden und weniger in der Lage sind, sich mit Behörden und Institutionen auseinanderzusetzen?", fragt Seidel.

Seidel ist engagiert. Schon im Kindergarten, wenn Geburtstage gefeiert wurden, hätte sie lieber 14 Kuchen selbst gebacken, als dass ihr Sohn auf das gemeinschaftliche Essen hätte verzichten müssen. Trotzdem sei sie keine Helikopter-Mutter, außerdem weit davon entfernt sich hysterisch zu verhalten, wie ihr oft vorgeworfen worden sei. Im Elternbeirat ist sie vor allem deshalb, weil sie so in direkter Verbindung zu den Lehrern steht, mitbekommt, wenn zum Beispiel wieder eine gemeinsame Pause organisiert wird. Die Nikolausfeier richtet sie lieber selbst aus, dann bekommen alle Kinder dasselbe, ohne Spuren von Erdnüssen. In Schulungen informiert Seidel Schulsanitäter und Lehrpersonal. Das Graf-Rasso-Gymnasium ist dankbar, denn immer mehr Kinder und Jugendliche sind von Anaphylaxien betroffen. Mit den Worten "Super, dass Sie die Schulung jedes Jahr auffrischen, denn mittlerweile haben wir schon sieben Schüler mit Pen", kommentierte die Direktorin Seidels Einsatz zuletzt. Bereits zweimal erlitt ein Kind in Julians Gymnasium einen anaphylaktischen Schock, beide Male galt der Notarzteinsatz nicht Seidels Sohn.

Laut den Erhebungen der "European Centre for Allergy Research Foundation" sind 0,2 Prozent aller Europäer von der Erdnussallergie betroffen. Tendenz steigend. Julian kann zwar viel Verschiedenes zu sich nehmen, vieles aber auch nicht. "Ich esse total gerne bei Burger King und McDonalds. Die deklarieren alle Inhaltsstoffe und Spuren, aber man ist natürlich trotzdem eingeschränkt. Ich könnte mir zum Beispiel niemals einfach so eine Pizza bestellen", sagt er. Wenn die Familie auswärts italienisch essen möchte, geht sie ins "Brunello". Der Besitzer hat Verständnis, nimmt die Allergie ernst. Ansonsten bleiben Restaurantbesuche kompliziert. Einmal im Jahr, nämlich dann, wenn das Snickers-Eis die Karte von McDonalds ziert, wird auch die Fast-Food-Kette für Julian zur Sperrzone. Die Wahrscheinlichkeit, dass auch andere Speisen mit Erdnussspuren infiziert werden, ist einfach zu hoch.

Klassenfahrten, Kinobesuche, Kindergeburtstage. Seidel will, dass ihr Sohn überall teilnehmen kann, auch wenn das für sie mit großem Aufwand verbunden ist. Wenn Julian irgendwo zum Essen eingeladen wird, gehen die Mütter jegliche Zutaten durch. "Die großen Firmen kennzeichnen Spuren eher, weil sie über ein professionelleres Allergenmanagement verfügen. Da muss man eben auf die Produkte von Konzernen zurückgreifen und kann nicht bei kleinen Biomarken kaufen", verdeutlicht die 51-Jährige. Während Unternehmen die Produkte, die Erdnüsse enthalten, nach dem europäischen Lebensmittelrecht erkenntlich machen müssen, liegt die Angabe von Verunreinigungen durch Spuren im eigenen Ermessen. Wenn Spuren nicht deklariert sind, muss Seidel jede einzelne Firma anschreiben.

In einer seiner frühen Erinnerungen sieht Julian seine Eltern in den Supermärkten verzweifelt vor den Regalen stehen. Mittlerweile ist seine Mutter Spezialistin. "Das liegt nicht zuletzt an dem NAN e.V., ein Verein für die Betroffenen von Anaphylaxien. In den letzten Jahren ist dieser immer mehr gewachsen. Einmal im Jahr veranstaltet die Gruppe ein Treffen", berichtet sie. "Das ist das einzige Wochenende im Jahr, an dem ich alles, was auf dem Buffet steht, auch essen kann. Was sich andere nicht vorstellen können, ist für uns wunderschön", beschreibt Julian.

Seit vier Jahren hat Julian keine allergische Reaktion mehr gezeigt, doch Reisen und Urlaube bleiben trotzdem große Mutproben. Fliegen, das hat sich die Mutter bis jetzt noch nicht getraut, zu eng, zu weit von Krankenhäusern entfernt. Denn schon eine Stadtrundfahrt mit dem Bus wird manchmal zum Risiko. Als der Geruch von gebrannten Erdnüssen zum offenen Oberdeck hinüberweht, auf dem die Familie während einer Sightseeingtour durch Berlin saß, plagt Julian sofort Atemnot. "Wir können es riechen, also reagiert Julian", folgert Seidel. Eine leise Hoffnung gibt es dennoch. Immerhin verschwindet die Erdnussallergie bei etwa 20 Prozent der Betroffenen. Das dürften aber eher die leichteren Fälle sein, ist sich Seidel relativ sicher. Eine Schulbegleitung braucht Julian ebenfalls nicht mehr, die Unfallversicherung konnte die juristischen Bedenken zerstreuen.

Theresa Seidel und ihr Sohn haben neulich beim Einkaufen eine Milch mit Erdnussgeschmack entdeckt. Nur künstliche Geschmacksverstärker, rein theoretisch könnte sich Julian an dem Getränk versuchen. "Ich könnte mir schon vorstellen, so etwas mal zu probieren, aber nur, wenn ich mir zu eintausend und eine Million Prozent sicher bin, dass ich nicht reagiere", sagt der Zwölfjährige bestimmt.

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Quelle:
SZ vom 01.02.2020
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