Germering:Schaurige Berührungen und schlechte Geheimnisse

Germering: Beim Herumalbern wickelt Alina das künftige Brautpaar in ein Tuch und bringt es zum Stürzen. Ein Symbol für die bald platzende Trauung.

Beim Herumalbern wickelt Alina das künftige Brautpaar in ein Tuch und bringt es zum Stürzen. Ein Symbol für die bald platzende Trauung.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Mit einem didaktisch einfühlsam aufbereiteten Mitmachstück sensibilisiert ein Gasttheater Germeringer Grundschüler und Lehrer für das Thema Kindesmissbrauch. Die Vorstellung in der Stadthalle hinterlässt beim jungen Publikum spürbaren Eindruck

Von Julia Bergmann, Germering

Fast muss man Elmira Bahrami unter dem grotesken Stoffungetüm, in das sie eingewickelt ist, suchen. Ihren eigentlich zierlichen Körper in eine kugelförmige schwerfällige Gestalt verwandelt, steht Bahrami auf der Bühne der Stadthalle und schlüpft in die Rolle von Vladimirs Schlabberkuss-austeilender Oma in dem Theaterstück "Trau dich!". Das Stück ist Teil einer Initiative des Bundesfamilienministeriums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und soll zur Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch beitragen. Was nun die überschwänglich knutschende Oma damit zu tun hat? Sie überschreitet, das wird in dem Stück ganz deutlich thematisiert, Vladimirs Grenzen. Sie gibt ihrem Enkel ein ungutes Gefühl. Und Vladimir (Helge Gutbrod) weiß nicht so recht, wie er sich gegen die übergriffigen Liebesbeweise seiner Großmutter zur Wehr setzen soll.

Die Initiative "Trau dich" besteht aus verschiedenen Bausteinen. Die drei größten sind das gleichnamige Theaterstück, zu dessen Aufführung in Germering am Dienstag mehr als 200 Grundschüler, 20 Lehrkräfte und 20 Referendare gekommen sind. Es besteht aber auch aus Workshops für Lehrkräfte und aus Elternabenden, wie Manuel Oswald von der BZgA bei einem Pressegespräch erklärt. Ziel des Projekts ist es zum einen, die Vernetzung von Schulen, Kommunen und Hilfssystemen zu fördern, zum anderen aber auch, Kinder, Lehrkräfte und Eltern für das Thema des sexuellen Missbrauchs zu sensibilisieren und das "Hilfehol-Verhalten" bei Kindern positiv zu beeinflussen.

Vladimir holt sich Hilfe. Erst bei seiner Mutter, die ihn zur Oma begleitet, nicht zu Wort kommt und selbst Opfer einer Knutsch-Attacke wird. Dann fragen die vier Schauspieler das Publikum. "Was kann Vladimir jetzt noch tun?" Viele Finger werden in die Höhe gestreckt, Tipps werden gesammelt und einer der Schüler schlägt vor: "Vladimir könnte einen Brief schreiben. "Was soll in dem Brief stehen?", will Schauspielerin Julia Bihl wissen. Wieder machen die Kinder Vorschläge, wie man der Großmutter zwar bestimmt, aber auch gut begründet und behutsam erklären könnte, dass sie Vladimir nicht mehr abschlabbern soll. Im Stück geht die Taktik auf. Die Oma, zunächst gekränkt, sieht ein, dass sie sich unangemessen verhält.

Das Theaterstück erzählt aber nicht nur Vladimirs Geschichte. In mehreren Episoden berichtet es von Charakteren, die sich mit Grenzübertritten in ihrer körperlicher Selbstbestimmung und sexuellem Missbrauch konfrontiert sehen.

Auf der Bühne zieht Bihl an Baramis gewickeltem Kostüm, dreht sie aus den meterlangen Stoffbahnen frei. Das Tuch, das dabei zum Vorschein kommt, wird kurzerhand Teil der Kulisse. Die vier Darsteller versetzen es derart in Schwingung, dass es in tosenden Wellen um Bahrami flattert. Bahrami schlüpft in die Rolle der acht Jahre alten Alina, die inmitten ihrer Familie im Meer herumalbert. Die glückliche Familie fiebert der Hochzeit der älteren Tochter Maya entgegen. Ihr Verlobter Dennis ist auf den ersten Blick ein "Traumprinz". Aber während eines unbeobachteten Augenblicks streichelt er Alina plötzlich und fasst in ihren Schritt. Die Schauspielerin tritt aus ihrer Rolle, nimmt die Perspektive eines Erzählers ein und beschreibt mit einem banal wirkendem Bruch wie die Geschichte weitergeht, als Dennis und Alina zurück zur Familie kommen: "Dann verteilt Dennis Schokokuchen als ob nichts gewesen wäre, aber für Alina ist plötzlich alles ganz anders", sagt sie.

Das Stück verdeutlicht auf einfühlsame Weise die konfuse Gefühlswelt Alinas, thematisiert ihre Gewissensbisse und wie sie mit unbegründeten Schuldgefühlen kämpft. Letztendlich vertraut sich Alina ihrer Schwester an. Diese reagiert zwar schockiert, glaubt ihr aber. Die Botschaft der Episode ist deutlich: es ist wichtig, sich Hilfe zu holen, auch wenn es schwer fällt.

Zwischen den episodisch erzählten Geschichten gibt es immer wieder musikalische Einlagen, kurze Videosequenzen werden eingeblendet. Sie zeigen Aufnahmen von Kindern, die sich zu den zuvor im Stück angesprochenen Themen äußern. Zu Alinas Geschichte etwa: "Spinnt der?" oder: "Kinder haben ihre Rechte, der darf das gar nicht".

Auch der von Johannes Birlinger dargestellte Charakter erzählt schließlich auf der Bühne die Geschichte seines Freundes Luka. Der habe ihm anvertraut, dass sein Schwimmtrainer eines Tages einfach zu ihm in die Dusche gestiegen sei. Luka habe gesagt, niemand dürfe davon erfahren, aber Birlingers namenloser Charakter habe sich doch eines Tages seinem Vater anvertraut. Schließlich haben Lukas Eltern den Trainer angezeigt und der Mann konnte nach seiner Verurteilung nie wieder mit Kindern zusammenarbeiten. "Ich habe gemerkt, dass ich solche schlechten Geheimnisse nicht für mich behalten muss", sagt der Schauspieler und verdeutlicht damit, dass es Situationen gibt, in denen es besser ist, das Schweigen zu brechen.

"Das Theaterstück ist hochsensibel aufgearbeitet, es steckt viel didaktische Vorarbeit darin und es ist auf die Kinderperspektive heruntergebrochen", lobt Barbara Oppermann von der Schulpsychologischen Beratung des Schulamts Fürstenfeldbruck. Gerade der Fokus auf die Gefühlswelt der Kinder sticht bei der Inszenierung positiv hervor. Oppermann erklärt: "Anhand dieser Gefühle erkenne ich erst, die Gefahren und merke, hier verläuft eine Grenze." Dass das Stück einen Nerv trifft und die Kinder im Grundschulalter mitreißt, zeigt nicht nur der tosende Applaus am Ende. Während des gesamten Stücks haben die Schüler Raum, sich mit eigenen Überlegungen einzubringen. Sie reagieren mit Lachen, wo eine Szene es zulässt, aber auch mit Entsetzen über das Erzählte. Als von dem Trainer unter der Dusche erzählt wird, zieht sich etwa ein langes "Iiiiihhhh" durch den Zuschauerraum.

Projekte wie diese seien wichtig und sinnvoll, meint auch Thomas Frey vom Fürstenfeldbrucker Schulamt. Nicht nur, weil die Dunkelziffer sexuell missbrauchter Kinder sehr hoch sei, im Schnitt sei mindestens ein Schüler pro Klasse betroffen. "Lehrer sind für Schüler auch oft ein sehr naher und intensiver Ansprechpartner", erklärt Frey weiter. Dieser Tatsache wird vor allem mit den begleitenden Lehrer-Workshops entsprochen. Schade sei hingehen, dass das Projekt offenbar nicht von allen Schulen ausreichend wahrgenommen wurde. Lediglich drei Grundschulen aus dem Landkreis haben daran teilgenommen.

Auf eine gezielte Vor- und Nachbereitung des Themas, nicht nur für Kinder, legt auch Kreisjugendamtsleiter Dietmar König wert. "Das Thema wird oft in den Hintergrund geschoben", sagt er. Bei den vorbereitenden Workshops und Elternabenden war deshalb auch die landkreiseigene Beratungsstelle KIM, die sich aus Vertretern zweier separater Organisationen für betroffene Buben und Mädchen zusammensetzt, mit eingebunden. Andrea Bergmayr von der Mädchen-Beratungsstelle Imma und ihr Kollege Peter Mosser von der speziell für Buben gedachten Stelle Kibs treten am Ende des Stücks auf die Bühne und erklären: wer sich schon einmal gefühlt hat wie Vladimir oder etwas erlebt hat wie Alina, der könne immer zur Beratung kommen. Kontakt. Es ist eine Chance auf Hilfe, auf die vielleicht irgendjemand im Publikum lange gewartet hat.

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