Süddeutsche Zeitung

Germering:Lebensgefährlicher Pflegenotstand

Tagelang liegt eine 80 Jahre alte Frau hilflos in ihrer Wohnung, weil eine Klinik die Betreuerin nicht informiert hat. Ein 68-jähriger Mann findet nach einer Augen-OP keinen mobilen Dienst, der ihm Augentropfen verabreicht

Von Ingrid Hügenell, Germering

Irgendwann hatte Andreas Hofmann-Lerner genug. Der Germeringer Augenarzt hatte erfahren, dass einer seiner Patienten, ein 68 Jahre alter Mann aus Germering, nach einer Operation am Auge zu Hause nicht angemessen versorgt worden war. Es hatte sich zunächst kein Pflegedienst gefunden, der dem alten Mann viermal täglich seine Augentropfen verabreichen wollte. Da das nicht zum ersten Mal passierte, setzte sich Hofmann-Lerner an seinen Schreibtisch und verfasste einen Brief an die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK). Eine Kopie schickte er an die Süddeutsche Zeitung.

Darin heißt es: "Immer wieder stelle ich fest, dass die Pflegedienste in Germering die Ausführung ärztlich verordneter Pflegeanweisungen, insbesondere nach Operation beziehungsweise bei schwerer Augenerkrankung verweigern mit dem Hinweis auf zu wenig Personal beziehungsweise zu geringe Entlohnung." Wie der Arzt auf Nachfrage der SZ erläutert, könne es schlimme Folgen haben, wenn die Patienten nicht versorgt werden - bis hin zur bleibenden Sehbehinderung oder gar Erblindung. Es könne nicht angehen, schreibt der Arzt weiter, dass bei akuten, schweren Augenerkrankungen oder der postoperativen Betreuung die Krankenkassen in einem "Genehmigungsverfahren" die ärztliche Verordnung verzögerten oder infrage stellten.

In dem Fall des 68-Jährigen gelang es der gesetzlichen Betreuerin schließlich nach einigen Tagen, für den Patienten eine Regelung zu finden. Zunächst aber blieb er unversorgt. Er hätte, wie der Arzt erklärt, die Tropfen sofort bekommen sollen, um zu vermeiden, dass sich die Wunde in dem operierten Auge entzündet. Das Krankenhaus habe die Verordnung von viermal Augentropfen pro Tag auf dreimal reduziert, und dafür fand sich ein Pflegedienst, erklärt die Betreuerin. Dabei habe der Sozialdienst der Klinik geholfen.

Die Betreuerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, hat viel Verständnis für die Pflegedienste. Die hätten viel zu wenig Zeit, stünden inzwischen auch im Landkreis oft im Stau. "Dann finden sie keinen Parkplatz und müssen die Treppen hinauf, oft ohne Aufzug", sagt sie. "Die vorgegebenen Zeiten müssten sich ändern." Für Verordnungen wie das Verabreichen von Augentropfen werden den Pflegediensten nur fünf Minuten bezahlt.

"Leider müssen auch wir feststellen, dass es für Pflegebedürftige zunehmend schwieriger wird, schnell und problemlos einen Pflegedienst mit freien Kapazitäten zu finden", sagt Steffen Habit, Pressereferent der AOK Bayern. Das sei eine konkrete Folge des auch auf politischer Ebene intensiv diskutierten Pflegenotstands. In erster Line gehe es aber nicht um Finanzierungsfragen, sondern um fehlende Pflegekräfte. "Dies ist mit eines der dringendsten gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit", sagt Habit weiter und verweist auf die Pflegeberatung der Kasse. Die helfe mit 75 Beratern in ganz Bayern dabei, jemanden zu finden, der die Versorgung übernimmt.

Insgesamt seien alte Menschen nicht gut versorgt, sagt die Betreuerin. Das liegt allerdings nicht unbedingt an den Pflegediensten oder den Krankenkassen. Sie berichtet von dem Fall einer Patientin, weit älter als 80 Jahre, die im vergangenen heißen Sommer nur knapp mit dem Leben davon gekommen sei. Die alte Frau sei von einem Münchner Krankenhaus entlassen worden, ohne dass ihr Hausarzt, ihre Betreuerin oder ihr Pflegedienst davon erfahren hätten. Schließlich habe sich die Mitarbeiterin des Pflegedienstes an sie gewandt, weil niemand wusste, wo die alte Frau war, berichtet die Betreuerin. Sie habe schließlich vom Krankenhaus erfahren, dass die alte Dame längst wieder zu Hause war. Als Pflegedienst und Betreuerin nachschauten, fanden sie die alte Frau auf dem Boden liegend. Sie hatte sich verletzt und konnte weder aufstehen noch Hilfe holen. Einige Tage hatte sie ohne Essen und vor allem ohne Wasser so dagelegen. "Die Nieren konnten gerade noch gerettet werden. Sie hat überlebt", sagt die Betreuerin, die noch immer fassungslos ist, dass das Krankenhaus die alte Frau einfach so nach Hause geschickt hatte.

Über den Pflegenotstand, der sich auch in Germering immer stärker bemerkbar macht, kann auch Snjezana Rocen einiges sagen. Die Pflegedienstleiterin des Germeringer Seniorendienstes erklärt: "Die Leute werden alleine gelassen, denen wird nicht geholfen. Das finde ich sehr, sehr schade." Zuerst würden Patienten zu früh aus dem Krankenhaus entlassen, um Geld zu sparen, und dann würden sie zuhause sich selbst überlassen. "Das ist ein großes Thema bei allen möglichen Operationen." Rocen ist seit 20 Jahren in der Pflege tätig und hat erfahren, dass die Belastung immer größer wird. Sie bestätigt die Beobachtungen des Arztes Hofmann-Lerner: "Ich habe schon Patienten gehabt mit solchen Problemen, und ich habe bei den Kassen nicht lockergelassen." Die Kosten erstattet zu bekommen sei schwierig. "Man bleibt oft darauf sitzen." AOK-Sprecher Habit streitet das ab: "Kein Pflegedienst bleibt auf Kosten sitzen, es sei denn, der Pflegedienst erbringt Leistungen auch nach Ablehnung durch die Krankenkassen."

Hoffmann-Lerner erwägt, Patienten, die zu Hause nicht angemessen versorgt werden, stationär ins Krankenhaus einzuweisen. Das käme die Kassen natürlich erheblich teurer als die Bezahlung eines Pflegedienstes. Wirklich tun möchte er das aber nicht, weil ein stationärer Krankenhausaufenthalt alte Menschen psychisch enorm belaste. Den 68-jährigen Patienten wieder ins Krankenhaus einzuweisen, wäre ohnehin nicht gegangen, sagt seine Betreuerin. Denn der versorge zu Hause seine behinderte Frau.

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Quelle:
SZ vom 04.12.2018
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