Süddeutsche Zeitung

Germering:Aufregendes Kopfkino

Beim Kreisentscheid des Vorlesewettbewerbs sind erstaunliche Textinterpretationen zu hören

Von Sonja Pawlowa, Germering

Heiser und leicht erkältet ist Thomas Warkentin aus dem Skilager zurückgekehrt. Dennoch liest er aus dem Buch "Die Duftapotheke" vor. Sowohl die Betonung als auch die der Rhythmus passen genau, sogar die durch die Heiserkeit hervorgerufene tiefe Stimmlage. Sein Talent überzeugt nochmals in der zweiten Runde, als er einen völlig unbekannten Text perfekt interpretiert. Dabei träumt er von einer Karriere als Testfahrer oder Auto-Designer. Lesen und vorlesen - das ist nicht dasselbe. Nicht jeder passionierte Bücherwurm vermag eine Zuhörerschaft zu fesseln. Die zwölf jungen Vorleser, die am Samstagnachmittag in der Stadtbibliothek Germering antraten, hatten ihr Können allerdings als Schulsieger längst bewiesen. Mitmachen beim Vorlesewettbewerb des Börsenvereins des deutschen Buchhandels können alle Schüler der 6. Klassen, unabhängig vom Schultyp.

Eine fünfköpfige Jury urteilt dann beim Wettbewerb nach einem ausgeklügelten Punktesystem. Mitglieder der aktuellen Jury waren die Gewinnerin der vorangegangen Vorlesewettbewerbs 2019, Amelie Busch, Brigitte Flämmich von der Stadtbibliothek, Helen Hoff von der Buchhandlung Lesezeichen, Martin Pollok, der Leiter des Abenteuerspielplatzes, und Oliver Simon, der Jugendreferent der Stadt Germering. Sie alle betonten ihren Respekt vor dem Mut der Teilnehmer, vor einem Publikum auf einer Bühne zu lesen. Tatsächlich lieben einige der Wettbewerber genau das. Jacob Magnus beispielsweise tritt seit vier Jahren mit der Theatergruppe "Springinkerl" aus Emmering auf. Er möchte als Schauspieler zum Film. In seiner vorgelesenen Textstelle aus "Rico, Oskar und das Himmelhoch" nutzt er die Gelegenheit, den türkisch-deutschen Jargon einer Romanfigur Leben einzuhauchen. Auch Emily Skof aus Fürstenfeldbruck will Schauspielerin werden. Sie denkt sich gern in die Charaktere hinein, beim Lesen und auch beim Schreiben ihrer eigenen Geschichten. Sie hat zwei Freundinnen nach Germering mitgebracht, einen Fanclub. "Um Freunde zu haben, muss man nicht perfekt sein", sagt Emily und das ist auch die Quintessenz ihres Buches.

Zum Bühnenprofi durch ihre Klavierauftritte gereift, präsentiert Milena Hauck ihren Text aus "Conni, Phillip und ein Kuss im Schnee". Die Conni-Geschichten begleiten sie schon ihr ganzes Leben, vom Kindergarten bis zur ersten Liebe. Ähnlich familiär geht es in Samira Khaleds Geschichte über die Zwillinge Maja und Motte zu. Fantasy ist das beliebteste Genre. Doch bei Magie und Zauberei existiert eine Bandbreite. Hanna Söll findet Harry Potter zu spannend, so dass sie nicht mehr schlafen kann. Julie Gerhardt mag gerne Fantasy-Filme. Johanna Hauser und Antonio Zubak lesen Textstellen aus der Romanserie "Animox", in der sich Menschen in Tiere verwandeln, die gegeneinander Krieg führen. In die magische Welt der nordischen Gottheiten entführt Lucia Englaender in einem Ausschnitt aus "Der Hammer des Thor".

Deutlich anders die Buchwahl von Jeremy Voß: "Das fliegende Klassenzimmer". Normalerweise liest Jeremy auch lieber Fantasy, aber nachdem er den Roman von Erich Kästner als Lektüre in der Schule kennengelernt hatte, gefiel er ihm so gut, dass er daraus lesen wollte. Außergewöhnlich auch das Buch, das Emily Krätsch sich ausgesucht hat. In "Boy in a White Room" erwacht ein 15-jähriger Junge in einem weißen Raum und hat sein Gedächtnis verloren. Ein anspruchsvolles Setting in der Welt des Internets, das auch die Erwachsenen fasziniert. Gefunden hat Emily den Roman über Amazon, also im Internet.

Internet, YouTube und Smartphones sind die großen Konkurrenten des Buches. Doch Menschen aller Altersgruppen wollen Geschichten. Damit das Lesen als Quelle guter Geschichten wahrgenommen wird, bietet Pollok auf dem Abenteuerspielplatz den Kindern Lesestoff an. Oft wird es ganz leise im Toberaum. Dann entschwinden die Kinder hinter einem Buch in eine andere Welt. Helen Hoff hat als Buchhändlerin die Erfahrung gemacht, dass es für jedes Kind das richtige Buch gibt. Nur, dass nicht jedes Kind sein passendes Buch findee. Wie schade, wenn einem Menschen das Erlebnis "Kopfkino" mit allen Gefühlen und Eindrücken verschlossen bleibe.

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SZ vom 10.02.2020
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