Kultur:"Einige werfen uns Verrat vor"

Kultur: Hagen Ullmann (von links), Aline Pronnet und Konstantin Bakhilin lassen die Besucher an ihren Gedanken zum Ukraine-Krieg teilhaben. Alexander Schmiedel ist als "Geist des Schlachthofs" Gastgeber des Abends.

Hagen Ullmann (von links), Aline Pronnet und Konstantin Bakhilin lassen die Besucher an ihren Gedanken zum Ukraine-Krieg teilhaben. Alexander Schmiedel ist als "Geist des Schlachthofs" Gastgeber des Abends.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Der szenisch-dokumentarische Theaterabend "You can't see hell from paradise" mit Stimmen Betroffener zum Ukraine-Krieg wird zum beeindruckenden und berührenden Zeugnis echter Kunst.

Von Florian J. Haamann

Es ist die immer gleiche Schleife. Im Fernsehen erklären sich deutsche Politiker, Militärexperten, Literaten und Kabarettisten gegenseitig, wie sie eigentlich sofort den Krieg in der Ukraine beenden könnten. Flankiert, von einem Heer an deutschen Twitter-Konfliktforschern, die auf 280 Zeichen, vom Sofa oder der S-Bahn aus abgefeuert, sogar noch einfältigere Lösungen kennen. Sie alle tun das so laut, dass sie aus ihren privilegierten Positionen heraus damit den Diskurs komplett kontrollieren. Gäbe es sonst überhaupt jemanden, dem man zuhören könnte? Die Betroffenen? Ja, ne, lass mal.

Was also tun? Die Geister beschwören natürlich! Den großen Geist der Kunst und seinen Assistenten, den Geist des Alten Schlachthofs in Fürstenfeldbruck. Gemeinsam schaffen sie es, beim szenisch-dokumentarischen Theaterabend "You can't see hell from paradise", einen Raum zu schaffen, in dem sich vier Menschen komplett öffnen können und dürfen, um ihre Geschichten zu erzählen. Darüber, wie dieser verhängnisvolle 24. Februar, der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, ihr Leben verändert hat. Keine Schauspieler, die Rollen spielen und Texte von anderen sprechen, sondern echte Menschen, die ihre echten, eigenen Erfahrungen und Gedanken mit den Zuschauern teilen.

Geist des Schlachthofs

Es sind die aus der Ukraine geflüchtete Svitlana Dus, der junge aus Russland geflüchtete Konstantin Bakhilin und die beiden Fürstenfeldbrucker Aline Pronnet und Hagen Ullmann, die gemeinsam einen bedrückenden und berührenden Abend schaffen. Zur Seite steht ihnen Alexander Schmiedel als Geist des Schlachthofs, als einzige Kunstfigur des Abends Gast- und Taktgeber zugleich. An wenigen, aber genau den richtigen Stellen ergänzt er die Erzählungen mit wuchtigen Textpassagen unter anderem von Heiner Müller und Berthold Brecht.

Zuerst einmal aber bereitet Aline Pronnet mit ihren Erinnerungen an den 24. Februar Dus und Bakhilin den Boden. Es sind einfache und doch wichtige Gedanken. Nicht darüber, wie sie als junge Deutsch-Französin die Welt retten könnte. Sondern darüber, ob es vertretbar ist, am Morgen ins "Teddygesicht" der kleinen Hündin vor dem Bett zu lächeln, sich an so einem Tag auf die anstehende Hochzeitsfeier zu freuen und am Abend mit Freunden im Pub zu sitzen. Darf man sich einen "Guten Abend" wünschen? Ja, eben weil es in diesen Zeiten ein Wunsch ist und keine billige Floskel mehr.

In dieser geerdeten Atmosphäre tritt Konstantin Bakhilin auf die Bühne, erzählt, wie er in Moskau für eine junge Oppositionspolitikerin gearbeitet hat, von der Gewalt, die in seiner Heimat Alltag und Recht der Mächtigen ist. Davon, wie er nach den Wahlen kapituliert und nach Odessa zur Familie seiner Tante flüchtet. Ich habe gerade meinem Freund aus Irkutsk eine SMS geschickt: "Alles ist ruhig in Odessa". Dann hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Rakete explodieren." Wieder muss er vor Gewalt der Herrschenden seiner Heimat flüchten. Genauso politisch wie Bakhilin denkt Hagen Ullmann. Als links versteht er sich und als Europäer. Der Krieg erschüttert sein anfangs festes Selbstverständnis, seinen Glauben, als Aktivist, die Welt verändern zu können.

Urlaub in Ägypten

"Hier und jetzt, im Paradies, musste jeder von uns eine Entscheidung treffen - wir entschieden uns für Vertrauen und Leben", fasst Svitlana Dus die Situation ihrer Familie kurz nach dem 24. zusammen. Da sind sie gerade im Urlaub in Ägypten. Und sie entscheiden sich, nicht in die Ukraine zurück zu kehren. "Einige verurteilen unsere Entscheidung sogar und werfen uns Verrat vor. Das ist schwierig, aber ich akzeptiere es und habe Verständnis."

Es entstehen an diesem Abend so viele ergreifende Momente, es gibt so viele Facetten, dass es schwer ist, dem Mut der Protagonisten - und den beiden Theatermachern Tim Freudensprung und George Jamburia, die sie zusammengebracht und begleitet haben - mit ein paar Worten gerecht zu werden. Klar ist nur, dass sie einen einmaligen und wichtigen Abend geschaffen haben, echte Kunst, die nicht um ihrer selbst Willen existiert, sondern weil sie etwas zu sagen hat. Sicher, gelöst ist am Ende kein Konflikt, der Krieg geht weiter. Es sterben weiter Menschen in einem unsäglichen Krieg. Es sind Menschen gestorben, während andere das Privileg hatten, in diesem Raum zu sitzen und Kunst zu erfahren. Und dennoch, oder genau deswegen, sind es solche Diskurse, die der Öffentlichkeit gut tun würden. Gerne auch in Dauerschleife zur Primetime.

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