Kultur:Schuld sind immer die anderen. Und jeder ein bisschen

Lesezeit: 3 Min.

Else (Ellen Kießling-Kretz) ist zwar wegen ihrer Demenz nicht mehr ganz auf der Höhe, sieht von allen aber doch noch irgendwie am klarsten. (Foto: Günther Reger)

Großartige Schauspieler, eine kluge Geschichte und eine mutige Inszenierung: Der Neuen Bühne Bruck gelingt mit "König und Meister" eine meisterhafte Uraufführung

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Wer zur Hölle ist denn nun schuld? Und woran gleich nochmal genau? Ganz einfach: Jeder ein bisschen an allem. Oder vielleicht niemand an gar nichts? Weil das Leben nun mal immer auch eine Aneinanderreihung von kleinen Tragödien ist, die letztlich in einem großen Drama enden? Auf großartige Weise verhandelt die Neue Bühne Bruck genau diesen Konflikt in der aktuellen Inszenierung "König und Meister" mit ihren Besucherinnen und Besuchern und schafft damit einen Theaterabend, der einfach alles hat: eine kluge Geschichte, die das Publikum im richtigen Maße herausfordert, komplexe Figuren, die sich entwickeln dürfen, unterhaltende Momente, die zum richtigen Zeitpunkt etwas Luft zum Durchatmen schaffen, ein geschlossen herausragend aufspielendes Ensemble - und einen Schuss Mysteriöses.

All das gelingt auch noch mit einem Stück, das die Fürstenfeldbrucker Schauspielerin und Regisseurin Christina Schmiedel gemeinsam mit der Brucker Autorin Theresa Hannig auf Grundlage eines Romans von Hannig neu geschrieben und mit dem Laienensemble der Bühne inszeniert hat. Eine Welturaufführung also. In diesem Abend steckt viel Mut. Und eben weil das Team dieses Risiko eingegangen ist, ist ihm ein echtes Meisterstück gelungen.

Um den Inhalt soll es an dieser Stelle nur am Rande gehen, weil die Geschichte ein sich langsam lösendes Rätsel ist, dessen Hinweise die Besuchenden während des Abends für sich selbst immer wieder neu zusammensetzen können, bis es letztlich zum großen Showdown kommt. Klar wird allerdings schnell, dass in der Familie des pensionierten Lehrers und passionierten Spießbürgers Frank König (Gerhard Jilka) etwas ganz und gar nicht stimmt und dass dieses Geheimnis die Familie schon vor Jahren zerstört hat. Die Mutter (Anne Distler) hat sich danach scheiden lassen und ihre endlich gewonnene Freiheit von der patriarchalen Ehe dazu genutzt, sich dem kapitalistischen Karrierekampf anzuschließen. Tochter Ada (Aline Pronnet) leidet noch immer unter der Kommunikations- und Emotionslosigkeit dieses Familienkonstrukts und muss nun zu allem Überfluss auch noch das Geheimnis lüften. Denn sie ist - eher unbewusst - einen Deal mit dem Geist eines Verstorbenen (Alexander Schmiedel) eingegangen, der in die Geschichte involviert ist. Begleitet wird sie von Else (Ellen Kießling-Kretz), einer Bekannten des Vaters, die zwischen Demenz und Verlustschmerz eine liebenswert-skurrile Alte geworden ist. Und zuletzt darf Patricia Flür als Krankenschwester immer wieder als Vermittlerin das emotionale Auftauen der Familienmitglieder befeuern.

Neben Aline Pronnet spielt auch Gerhard Jilka in der Inszenierung. (Foto: Günther Reger)

Eine Stärke des Stücks ist, dass es ein großes Problem ganz alltagsnah verhandelt. Hier der unbedachte Streich eines Kindes, da eine Angst vor Ehrlichkeit, immer wieder kleine - und größere - Egoismen. Alles für sich nicht dramatisch und vor allem menschlich verständlich. Und doch führen all diese Aktionen und Entscheidungen in genau dieser einen Konstellation am Ende zu einem Unglück - oder sind es nicht doch mehrere? So groß, dass man jetzt doch ganz gerne irgendjemandem die Schuld geben würde. Aber genau damit tut man sich nun eben schwer. Setzt man an einem Punkt mit der Schuldzuweisung an, droht an anderer Stelle etwas vergessen zu werden. Und immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass Schuld wohl juristisch leichter zu bestimmen ist als moralisch. Ein echtes Dilemma, das die Inszenierung aber keineswegs lösen will - sondern mit schelmischem Genuss nur immer weiter vorantreibt und verworrener macht, bis der moralische Kompass des Publikums völlig frei dreht.

Von patriarchaler Unterdrückung in den kapitalistischen Karrierekampf: Anne Distler spielt die stets gestresste Mutter König. (Foto: Günther Reger)

Dass es bei dieser Geschichte nicht um weltfremde Bühnenintellektualität geht, sondern um den Alltag aller Anwesenden, macht die Inszenierung auch mit einem kleinen, großartigen Kniff deutlich: Else "lebt" nicht wie die anderen Figuren auf der Bühne, sondern hat ihr Wohnzimmer mitten in den Zuschauerreihen eingerichtet - somit werden auch die Besucherinnen und Besucher zum Teil dieser Welt - oder eben die Bühnenwelt zur Welt des Publikums. Die Botschaft: Dieses Dilemma betrifft euch alle! Auch die Mutter steht meist neben der Bühne, gestresst auf dem Tablet tippend oder ins Telefon meckernd. Wenn sie sich bewegt, dann nur mit dem Rollkoffer am Arm, er scheint längst Teil ihrer Körpers geworden - erst später wird sie ihn loslassen dürfen und ein Stück ihres Menschseins zurückerhalten, Erfolg gegen Emotionen tauschen.

Denn auch darum geht es an diesem Abend: Alle haben sich einen Panzer angelegt, der ihre Gefühle, Erinnerungen und Unsicherheiten sicher verbergen soll. Die Mutter mit ihrem Business-Kostüm, der Vater dadurch, dass er sich an der Schule und zu Hause ein Königreich aufgebaut hat, in dem er das Sagen hat. Er selbst ist es, der den "Meister", einen Walnussbaum, gepflanzt hat, der, als Schatten auf ein Tuch projiziert, zum bedrohlichen Bühnenbild wird und der nun seine reifen Früchte wie Projektile auf die emotionalen Panzer schießt. Schicht für Schicht blättert es, bis die Protagonisten erkennen: Nur wenn sie sich ihren Gefühlen stellen und als Menschen daran wachsen, besteht noch so etwas wie Hoffnung auf Vergebung.

"König und Meister", Neue Bühne Bruck. Weitere Termine: 28. und 29. Oktober sowie 4. und 25. November, jeweils 20 Uhr; 13. und 20. November, 19 Uhr. Karten für 17, ermäßigt neun Euro unter www.buehne-bruck.de

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