Fürstenfeldbruck:Süße Poesie

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Minimalistisch: Für den großen Auftritt braucht Hanns-Josef Ortheil keine große Kulisse. (Foto: Günther Reger)

Mit einer "Italienischen Nacht" feiert Hanns-Josef Ortheil den Auftakt der Reihe "Literatur in Fürstenfeld". Seine Schilderungen lassen das Publikum am Ende mit einem unbändigen Hunger zurück - nach Italien, nach Abenteuer und Cannoli

Von Julia Bergmann, Fürstenfeldbruck

Wenn Hanns-Josef Ortheil beginnt zu sprechen, hüllt sich seine Stimme wie eine weiche Samtdecke um seine Zuhörer. Der Mann, der vorne auf der Bühne im kleinen Saal des Veranstaltungsforums sitzt, braucht keine große Kulisse, keinen Firlefanz. Allein mit seinen Worten malt Ortheil unwiderstehliche Bilder in die Köpfe seines Publikums, Bilder von Sehnsüchten, Bilder des sinnlichen Rausches, kurzum Bilder, von denen nicht einmal ein Epikur gewagt hätte zu träumen. Ortheil, der Mann mit den tiefen Lachfalten und der eleganten Ruhe eines Philosophen, feiert mit einer "Italienischen Nacht" den Auftakt der Reihe Literatur in Fürstenfeld.

"Rom war die erste Stadt, die ich von Köln aus kennengelernt habe", beginnt der Schriftsteller, Pianist und Universitätsdozent zu erzählen. Für Ortheil, geboren und zum Teil auch aufgewachsen in Köln, war diese Reise in die ewige Stadt keine Routine, kein kurzer Ausflug, es war unerwartet und mit stürmischer Heftigkeit der Beginn einer tiefen Liebe. Der Autor, kaum 18 Jahre alt, wollte ein Stipendium für das Klavierstudium am Konservatorium ergattern, was ihm am Ende auch gelang. "Ich habe alles auf eine Karte gesetzt", sagt er. Er sprach weder ein Wort italienisch, noch war er zuvor lange im Ausland gewesen. "Das vierte Moment war, dass ich bis dahin - und das mag ihnen vielleicht etwas komisch vorkommen - keinen Tag ohne meine Eltern verbracht habe." "Risikovoll" sei dieses Abenteuer für ihn, der in jungen Jahren vorübergehend aufgehört hatte zu sprechen und der in fremden Situationen zum Rückzug in sein Inneres neigt, gewesen. "Aber es hat alles anders stattgefunden. Und das ging gleich mit meiner Anreise los", erinnert sich Ortheil.

Der Schriftsteller schlägt "Die weißen Inseln der Zeit" auf und beginnt zu lesen. Seine Stimme verwandelt sich in Sekundenbruchteilen in eine Melodie aus rauer Sanftheit, seine Pausen und die Intonation sind wohl gesetzt, die Worte, die er verwendet, sind von malerischer Poesie. Es sind die Worte eines Mannes, der es wie kaum ein anderer versteht, zu beobachten. Ortheil erinnert sich an seine Wohnung in der Via Bergamo, an seine alte Vermieterin, eine Dame aus Südtirol, die fast ausschließlich an katholische Priester vermietete und für die der 18-jährige Ortheil sämtliche Aufgaben übernahm, die ihr unangenehm waren. Etwa das Aufbrühen und Bringen des Tees an sämtliche Vermieter um 6 Uhr morgens. Diesen Tee, so Ortheil, hätte er selbst niemals getrunken. Und so erschien ihm die Barbesitzerin Antonia wie eine Retterin in der Not. Jeden Morgen stellte ihm Antonia unaufgefordert und gratis eine Tasse Cappuccino auf den Tresen . Ortheil, der Poet, schafft es mit seinen Worten, eine Tasse Kaffee mit aufgeschäumter Milch wie die allergrößte kulinarische Offenbarung erscheinen zu lassen. Er beschreibt, wie er das heiße Getränk Schluck für Schluck die durstige Kehle hinunterrinnen lässt, seine Schilderung ist eine spannungsvolle Mixtur aus heiliger Andacht und frivoler Erotik.

Er schwärmt wie ein liebestoller Jüngling, beschreibt, vergleicht, zeichnet Bilder, sodass man glaubt, selbst in der römischen Bar zu sitzen, den Duft des heißen, dampfenden Kaffees in der Nase, den Geschmack des milchigen Flaums auf der Zunge. "Noch heute trinke ich Cappuccino nur mit Andacht", sagt Ortheil. Der Cappuccino, erklärt er, war nicht nur geschmacklich eine Offenbarung, sondern auch deshalb, weil er als junger Mann in den Siebzigerjahren, das erste Mal weg von Zuhause, nur 100 Mark im Monat zur Verfügung hatte, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. "Ich musste versuchen, damit jenen immensen jugendlichen Hunger zu stillen, den eine Tasse Tee am morgen vielleicht gedämpft hätte", sagt er mit einem verschmitzten Zug um die Augen. Ortheils unaufdringlicher Witz, seine feine Ironie ziehen sich durch den Abend. Und so entwickeln sich seine anfänglichen Schilderungen zu einem tollkühnen, kulinarischen Diebeszug durch Rom, einem Rausch der Sinne und einer Erzählung verborgener Verheißungen, an dessen Ende der immer hungrige junge Mann ein stattlich zusammengeschnorrtes Mahl in der italienischen Nachmittagssonne genießen kann.

Ortheils Geschichten entwickeln sich langsam, setzen sich aus fulminanten und exzessiven Beschreibungen zusammen und versetzen das Publikum ins Träumen. Die Geschichten, die der Autor liest, sind ein Fest. Aber genau da liegt auch der kleine Wermutstropfen des Abends: Manchmal fällt es schwer, den langen Beschreibungen zu folgen, zu sehr ist der Geist versucht, in eigenen Erinnerungen zu schwelgen und den Bildern nachzuhängen. Obwohl Ortheil einer derjenigen Autoren ist, dessen Texte, trägt er sie selbst vor, umso mehr an Brillanz gewinnen, fällt es streckenweise schwer, die volle Konzentration zu wahren.

Dennoch, dem Abend mit Ortheil wohnt eine ganz eigene, besondere Atmosphäre inne. Und spätestens als er aus "Die Insel der Dolci" liest, ist man versucht, das nächste Auto zu entern und noch die Nacht durch bis nach Sizilien zurückzulegen, nur um eine dieser kostbaren Köstlichkeiten zu kosten. Für "Die Insel der Dolci" ist Ortheil durch sizilianische Bachstuben gereist, um dem Geheimnis der typischen süßen Köstlichkeiten auf die Schliche zu kommen. Er schildert die Entstehung der Süßigkeiten mit geradezu religiöser Andacht, feiert dabei nicht das Überladene einer Cassata Siciliana, die verschiedene Dolci-Zutaten "geradezu zwanghaft" zu einem überheblichen Gesamtkunstwerk vereint und vom hiesigen Bäckermeister mit einer "Prostituierten, die sich überall anbiedert", verglichen wird. Ortheil zelebriert die zurückhaltende Eleganz der Pastille di mandorla oder aber der Cannoli, die "zugleich männlich und weiblich"seien, außen knusprig und innen cremig weich.

Die aufleuchtenden Scheinwerfer vertreiben jäh die zarte Beleuchtung der Bühne, nachdem Hanns-Josef Ortheil seinen letzten Satz gesprochen hat. Zurück bleibt ein eigentümlich berauschtes Publikum, das einen unbändigen Hunger in sich trägt, nach Italien, nach Abenteuer und nach Cannoli.

© SZ vom 28.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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