Süddeutsche Zeitung

Fürstenfeldbruck:Mehr als ein Freizeitangebot

Grüne diskutieren über die Kulturpolitik

Von Sonja Pawlowa, Fürstenfeldbruck

Wie zentral die Bedeutung von Kultur für die Gesellschaft und die Demokratie ist, scheint auch nach einem Jahr der Pandemie noch nicht überall angekommen zu sein. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Beate Walter-Rosenheimer lud deshalb zu einem Online-Frühschoppen mit kulturpolitischen Sprechern ihrer Partei, Sanne Kurz, und dem Bundestagsabgeordneten Erhard Grundl. Kultureinrichtungen müssen wieder geöffnet werden, so die klare Forderung von Beate Walter-Rosenheimer.

Debattenorte, Erlebnisorte, Austausch und Gemeinschaftserlebnisse seien elementar für den Erhalt der Gesellschaft. Kultur gleichzusetzen mit Freizeitspaß, der im digitalen Format ebenso funktioniert, sei falsch. Das bestätigt die Landtagsabgeordnete Sanne Kurz. Bei digitalen Festivals tummelt sich eine Blase, sagt sie. Es fehlen zufällige Zusammentreffen und altersübergreifende Begegnungen. Das sei auch die Sicht des Publikums und der Kulturschaffenden.

Dass Kultur darüber hinaus einen riesigen Wirtschaftszweig darstellt, wird klar, wenn Zahlen ins Spiel kommen: Vor der Pandemie erzielte die Branche in Europa Umsätze im dreistelligen Milliardenbereich. Als unwiederbringlich bezeichnet Erhard Grundl den aktuellen Verlust an Kreativen, den Braindrain der Szene. Einzig der Gaming-Sektor und die Streaming-Dienste sind Bereiche, die als Sieger aus der Corona-Krise hervorgehen. Bei der GEMA-Ausschüttung wird sich erst 2022 herausstellen, wie hart die Musiker betroffen sind.

Als Mitglied des Bundestags hat Grundl die Erfahrung gemacht, dass zwar unter den Kulturpolitikern parteiübergreifend Konsens besteht. Jedoch scheine den "Entscheidern an den Geldtöpfen" nicht bewusst zu sein, was es kostet, Kultur wiederzubeleben, wenn sie erst einmal verloren ist. Sanne Kurz fungiert als Sprecherin für Kulturpolitik und Film im Bayerischen Landtag, hat selbst an der Filmhochschule HFF in München studiert. Eine Antwort auf die Frage, was Kulturschaffende in der aktuellen Situation konkret tun sollen, fällt ihr schwer: Bei Künstlern liegt keine Arbeitslosigkeit im landläufigen Sinne vor. Es wird ja gearbeitet. Nur die Auftrittsmöglichkeiten sind verwehrt. Für Tänzer fehlt es sogar an Probenräumen. Wer aber nicht auf seinem Niveau bleibt, wird später nicht auftreten können. Das führt zu Perspektivlosigkeit, viele geben auf.

Dass es anders geht, zeigt Beate Walter-Rosenheimer ausgerechnet am Beispiel Großbritannien auf. Dort würden Soloselbstständige schneller, unbürokratischer und mit höheren Summen, die auch den Lebensunterhalt beinhalten, unterstützt. Sanne Kurz fügt hinzu, es müsse noch weitere Kriterien für Förderungen geben als die finanziellen Rahmenbedingungen. Für einen Reset seien Mindestgagen, Nachhaltigkeit und Gendergerechtigkeit ebenso wichtig. Erhard Grundl schlägt Pflichtabgaben wie Steuern zum Wohl der Kultur vor. Hinter Herbert Grönemeyers Idee "Solidaritätsabgaben für Superreiche" lauere Mäzenatentum, argwöhnt Grundl. Er will die Vielfalt fördern, keine Preise vergeben.

Auch Sanne Kurz stellt Forderungen. Sie nennt als positives Beispiel den Ausfallfonds, den es in Deutschland für die Filmwirtschaft, in Österreich hingegen für den gesamten Kulturbereich, gibt. Es sei eine lange Nahrungskette, die betroffen sei, so Sanne Kurz. Zu Weihnachten wären Eintrittskarten für Veranstaltungen im Sommer verschenkt worden, hätte es die Geld-zurück-Sicherheit gegeben. So könne man Planungssicherheit schaffen. Denn das Line up für ein Festival kann nicht von heute auf morgen stehen. Und wenn es keiner organisiert, wird es kein Festival geben.

Stimmen aus dem Online-Publikum, die von der Moderatorin Helga Stieglmeier hinzugeschaltet werden, beleuchten das Thema zusätzlich. Ehrenamtliches Engagement und Kulturschaffende in Vereinen sind ebenfalls betroffen. Andernorts droht ein Verlust der Jugendkultur, wenn nur noch ein angepasstes, geräuscharmes und braves Verhalten erlaubt ist. Christina Claus weist auf die Problematik der ehrenamtlichen Kulturschaffenden hin. Es fehlt an Proberäumen für Chöre, um Abstandsregeln einhalten zu können. Märkte, um Kunsthandwerk an den Käufer zu bringen, sind für sie nicht unwichtiger als die Öffnung von Baumärkten. Der Zugang zu Bibliotheken - nicht nur online - sei ein weiterer Schritt.

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Quelle:
SZ vom 03.03.2021
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