Süddeutsche Zeitung

Fürstenfeldbruck:Lehrer am Limit

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Heterogene Klassen und verhaltensauffällige Kinder bringen die Pädagogen an den Grundschulen an ihre Belastungsgrenze. Nun sollen sie auch noch mehr arbeiten. Dagegen wehrt sich die Kreisgruppe des BLLV

Von Ingrid Hügenell, Fürstenfeldbruck

Kinder, die permanent in der Klasse herumlaufen, anderen die Stifte wegnehmen und diese aus dem Fenster werfen oder die dem Nachbarkind die Haare abschneiden - "das ist das, was uns so belastet", sagt eine Grundschullehrerin. Nur vier Kinder in ihrer Klasse seien "normal", die anderen 18 mehr oder weniger verhaltensauffällig, nur fünf haben Deutsch als Muttersprache. 14 Unterrichtsstunden gibt die Lehrerin in der Woche an einer Grundschule im Landkreis. Vom kommenden Schuljahr an sollen es elf Stunden mehr sein.

Der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) protestiert wie auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gegen das Maßnahmenpaket von Kultusminister Michael Piazolo (FW). Am vorigen Freitag sind Vertreter des BLLV zur Demonstration nach Eichstätt gefahren. Sie fordern, dass der Beruf attraktiver und mehr geschätzt werde, erklären Schulleiterin Kreisvorsitzender Christian Franke, Schulleiter-Sprecherin Cathrin Theis, Iris Gotzig vom Jungen BLLV und Lehrerin Anita Müller bei einem Pressegespräch. Die Entlastungen, die Piazolo kürzlich ankündigte, reichten bei Weitem nicht aus. Zwei Lehrerinnen berichten von ihrem Alltag, ohne ihre Namen zu nennen.

"Wir möchten sagen, dass wir an eine Leistungsgrenze gekommen sind", erklären alle. Piazolo will den Lehrermangel beheben, indem alle Grundschullehrer pro Woche eine Stunde mehr Unterricht geben sollen. In einigen Jahren soll diese Mehrarbeit wieder abgebaut werden. Den Ruhestand dürfen Lehrer erst mit 65 und nicht wie bisher mit 64 beantragen, Übergangsfristen gibt es dafür nicht. Besonders hart trifft es Teilzeitkräfte, die weder Kinder unter 18 noch pflegebedürftige Familienangehörige haben. Sie müssen aufstocken, bei halben Stellen von 14 auf 24, plus die eine Stunde Mehrarbeit, also auf 25 Stunden. Und das seien eben nicht nur elf Stunden mehr Unterricht, erklärt Cathrin Theis, die Sprecherin der Schulleiter beim BLLV im Landkreis. Mit Vor- und Nachbereitung "sind das eigentlich zwei komplette Arbeitstage mehr in der Woche."

Dem fühle sie sich nicht gewachsen,erklärt die Lehrerin aus der Brennpunktschule. Die Frau, Mitte 50, möchte weder ihren Namen sagen noch, wo genau sie unterrichtet. Sie fürchtet Repressalien. Zusätzlich zum Unterricht, dessen Vorbereitung, den Korrekturen und dem Schreiben von Zeugnissen und Beurteilungen müsse sie häufig Kontakt zu Schulpsychologen, Therapeuten oder zum Jugendamt aufnehmen und natürlich mit den Eltern sprechen. Die Mehrzahl der Kinder in ihrer Klasse sei entwicklungsverzögert. Kündigen könne sie aber auch nicht. Täte sie es, verlöre sie die Hälfte ihrer Pensionsansprüche.

Nicht an allen Schulen sei die Situation so extrem, erklären die Teilnehmer des Pressegesprächs. Aber in den Brennpunktschulen in den Städten gebe es viele Kinder, die nicht richtig Deutsch könnten, und beileibe nicht nur solche mit Migrationshintergrund. Viele seien unselbstständig. Es gebe Kinder, die sich nicht alleine anziehen oder die Nase schnäuzen könnten, die nicht wüssten, wie man eine Schultasche packt oder eine sehr geringe Aufmerksamkeitsspanne hätten. Viele kämen in die Schule, ohne gefrühstückt zu haben.

Die Klassen in der Grundschule werden immer heterogener, durch Flüchtlinge, aber auch dadurch, dass manche Kinder schon mit fünf Jahren eingeschult werden, die meisten mit sechs, andere erst mit sieben Jahren. Manche haben ADS und ADHS. Durch die Inklusion sind Buben und Mädchen mit Behinderungen in den Klassen, mit Seh- oder Höreinschränkungen, aber auch mit halbseitigen Lähmungen oder autistischen Zügen. Oft müssten sich die Lehrer darum kümmern, dass ein Kind einen Schulbegleiter bekomme.

Viele Lehrer seien überfordert. "Was nützt mir als Schulleiterin eine Kollegin, die ständig über ihre Belastungsgrenze geht? Die bricht mir irgendwann zusammen", sagt Theis. Die Folge: ein hoher Krankenstand. Um den Beruf wieder attraktiver zu machen, fordert der BLLV für Grundschullehrer dasselbe Einstiegsgehalt wie für Lehrer an weiterführenden Schulen. Sozialpädagogen oder Erzieher könnten in Klassen mit Inklusionskindern als zweite Person helfen. Bisher unterrichten Lehrer in solchen Klassen alleine, bei Klassenstärken von bis zu 28 Kindern. Damit werde man auch den Kindern nicht gerecht. An Förderschulen sind es höchstens 15.

Iris Gotzig sorgt sich um die jungen Lehrer. Manche hätten einen Burnout, bevor sie 30 seien und seien langfristig für den Schuldienst verloren. Berufsanfänger würden zuweilen am Anfang des neuen Schuljahres etwa aus Franken in einen Ballungsraum versetzt und müssten sich dann dort innerhalb einer Woche eine Wohnung suchen und sich zurechtfinden. "Da sind Sie die ersten ein, zwei Jahre nur am Rotieren", sagt Gotzig, die selbst aus Franken stammt. Viele beantragten Teilzeit, weil sie das anders gar nicht bewältigen könnten. Ihre Forderung: den Lehrerberuf wieder attraktiv machen.

Unverständnis äußern Franke und Theis darüber, dass der eklatante Lehrermangel so plötzlich aufgetreten sei. Noch vor fünf Jahren seien viele fertige Grundschullehrer nicht verbeamtet worden. Tausende junger Lehrer seien in die freie Wirtschaft abgewandert, manche hätten fünf Jahre auf der Warteliste gestanden. Manches sei schlecht kalkulierbar, sagt Franke, etwa der Zuzug und die Zuwanderung. "Aber wenn ein Kind geboren ist, muss man nicht überrascht sein, wenn es sechs Jahre später eingeschult wird."

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SZ vom 12.02.2020
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