Theater:Im Zweifel für den Zweifel

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Mika (Leandra Frey, vorne) ist mit ihren drei Ichs in ihrem Kokon gefangen. Das Leben findet hinter dem Vorhang statt. (Foto: Günther Reger)

Mit einer fulminanten Inszenierung nimmt das Theater 4 seinen Spielbetrieb auf. "Kokon" ist ein kluges und zugleich berührendes Stück über Bindungsängste und den Kampf mit der eigenen Unsicherheit

Von Florian J. Haamann, Fürstenfeldbruck

Es ist nur ein dünner Schleier, der Mika von der Außenwelt trennt. Und doch ist er für sie schwerer einzureißen als jede Mauer. Auf der anderen Seite sind die Menschen, da ist das Leben mit all seiner Schönheit, seinen Abenteuern, seinen Geheimnissen - und seinen Gefahren. Trauer, Enttäuschung, Schmerz. Mika hört die anderen, sieht sie, ab und zu kommuniziert sie sogar mit ihnen, knüpft zarte Freundschaftsbande. Doch sie dringt nicht zu ihnen durch, ist in ihrem Selbstschutz-Kokon gefangen. Es ist ein intensiver, ein berührender Kampf, den Mika, gespielt von Leandra Frey, auf der Bühne austrägt. Sie ist die Protagonistin in "Kokon", der ersten Inszenierung des neugegründeten Theater 4. Etwa 250 Besucher sind in den Säulensaal des Veranstaltungsforums gekommen, um dieser Uraufführung beizuwohnen.

Weil es der 21-jährigen Regisseurin Katharina Holzhey aber offenbar nicht Herausforderung genug war, ein Ensemble aus gleichaltrigen Laien zum ersten Mal auf einer größeren Bühne zusammen zu bringen, hat sie sich dazu entschieden, nicht etwa ein Stück aus der großen Welt der Theaterstücke zu wählen. Nein, Holzhey, die bisher eine Aufführung inszeniert hat, an ihrer Schule, besitzt tatsächlich die Chuzpe, für die Premiereninszenierung auch noch ein selbstgeschriebenes Stück auf die Bühne zu bringen. Und was für einen Text sie geschrieben hat. Dicht, klug, humorvoll, emotional, authentisch. Eine Inszenierung für Herz und Hirn.

Dass alles, was sie sagen will, auch beim Publikum ankommt, ist dem geschlossen überzeugenden Ensemble zu danken, geführt von der herausragenden Leandra Frey und ihrer ebenso starken Antagonistin Lena Sammüller. Holzhey hat sich dafür entschieden, Mikas Gedankenwelt in drei Charaktere aufzuteilen: Das Kind-Ich (Sammüller), das Eltern-Ich (Tim Golling) und das Erwachsenen-Ich (Titus Weber), angelehnt an die Transaktionsanalyse, eine Theorie der Persönlichkeitsstruktur, entwickelt vom Psychiater Eric Bernes.

Sammüller schlüpft in die Rolle des Kind-Ichs, bekommt den Namen Alice. Sie alleine ist es, die den Kokon um Mika gesponnen hat und aufrecht erhält. Streng und dominant kontrolliert sie Mikas Gedanken, degradiert Eltern- und Erwachsenen-Ich zu Statisten. Mit einem Zeigestab fuchtelnd erklärt sie anhand einer Powerpoint-Präsentation, zwischen Businessfloskeln und Oberlehrerhaftigkeit wechselnd, wie ihr System funktioniert. Weil man nicht in die Köpfe der anderen schauen könne, könne man nie wissen, ob sie es ernst meinen oder ob sie Mika auch nur verletzen werden. Die Konsequenz: Abbruch aller Beziehungen, sobald sie ernst zu werden drohen.

Dieser Ernstfall tritt ein, als Mika Juno, gespielt von Cosima Schenk, kennenlernt. Diesmal weigert sich Mika, Alice zu folgen, versucht ihre Gefühle zuzulassen, sich zu verlieben. "Ich will nicht mehr alleine sein. Du musst mich gehen lassen", brüllt Mika immer wieder. Es ist eine bewusste Entscheidung: Lieber verletzt werden oder verletzten, als gar nicht zu fühlen. Frey, die bisher ver- und selbstzweifelnd über die Bühne geschlichen ist, emanzipiert sich. Dieses Selbstbewusstsein in doppelter Hinsicht drückt sich auch in ihrer Körpersprache aus. In einem finalen Befreiungsakt spricht Mika schließlich direkt das Publikum an, hält ein Plädoyer für die Liebe. Zwar zerreißt der Kokon nicht, aber er ist durchlässig geworfen. Die Figuren, die bisher dahinter waren, können nur Mikas Bühnenraum betreten.

Bis dahin sind sie als undefinierbare Gestalten permanent hinter der Kokonwand in einem wogenden Tanz umher gewandelt. Im Programm werden sie Hexen (Hannah Sammüller, Jakob Kurz, Jonas Holupirek, Katharina Holzhey) genannt. Bewegung und Musik sind wichtige Elementein Holzheys Inszenierung. Im Moment höchster Emotionalität, beim Zusammentreffen Mikas mit der Außenwelt, sind Worte nicht mehr das passende Ausdrucksmittel. Und so lässt die Regisseurin ihre Schauspieler einen gut choreografierten Ausdruckstanz aufführen. Während der ganzen Aufführung läuft ein reduzierter, aber bedrohlicher Beat im Hintergrund. All diese Elemente sind dabei nicht um ihrer selbst Willen eingesetzt, sondern bewirken, dass sich die Geschichte tief ins Bewusstsein der Zuschauer einbrennt.

© SZ vom 19.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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