Fürstenfeldbruck:Die Freiheit erkämpft

Roter Teppich

Rote Teppiche sind nichts für Karin Geißler. Geht es aber um einen Sicherheitsstreifen für Radfahrer auf dem Marktplatz, radelt die Grüne vorne mit.

(Foto: Günther Reger)

Karin Geißler demonstriert im Herbst 1989 in der DDR für Reformen. Zwei Jahre später zieht sie mit der Familie nach Fürstenfeldbruck, weil Arbeitslosigkeit droht. Heute ist die Grüne hier Dritte Bürgermeisterin

Von Peter Bierl, Fürstenfeldbruck

Vom Ossi zum Wessi, von der Opposition in die Regierung. Karin Geißler hatte im Herbst 1989 in Leipzig für Reformen in der DDR demonstriert. Nach der Wende zog sie nach Fürstenfeldbruck und engagierte sich bei den Grünen. Heute ist sie Dritte Bürgermeisterin der Stadt. Geißler ist einer von vielen Menschen aus Ostdeutschland, die in Bayern ein neues Zuhause gefunden haben.

Die 54-Jährige zog 1996 als parteifreie Kandidatin für die Grün-Unabhängige Liste (GUL) in den Stadtrat ein. Dort war sie zwölf Jahre Fraktionsvorsitzende und piesackte die CSU, etwa mit detaillierten Kenntnissen bei Etatdebatten. Nach der Kommunalwahl 2014 wählte der Stadtrat Geißler zu einer Stellvertreterin von Klaus Pleil. Die Diplom-Ingenieurin arbeitet in der Softwarebranche, unter anderem als IT-Beraterin in München.

Obendrein ist Geißler sportlich aktiv. Bereits in der DDR hat sie Tischtennis gespielt. Heute ist sie beim TuS in der dritten oder vierten Damenmannschaft. Viele Jahre lang koordinierte sie als Spielleiterin die Kreisliga. Die wurde inzwischen abgeschafft, weswegen das Team in die Bezirksliga aufgestiegen ist und dort viele Niederlagen kassiert, wie Geißler erzählt.

Geboren wurde Geißler in Görlitz, nahe der Grenze zu Polen, studiert hat sie in Dresden. Danach zog sie, inzwischen verheiratet und mit dem ersten Kind, nach Leipzig, wo sie und ihr Mann Arbeit fanden. Erst in der Messestadt entwickelten sie eine kritische Haltung. "Die Luftverschmutzung durch die Braunkohleheizung war enorm und über das Westfernsehen bekam man ganz neue Informationen", erzählt sie. Dresden und Görlitz seien in der Tat das "Tal der Ahnungslosen" gewesen. Ein Schlüsselerlebnis war für Geißler ein Bericht, in dem die Westgrenze der DDR aus der Luft gezeigt wurde, die man als Ostbürger normalerweise nicht zu sehen bekam.

Dennoch seien sie eine ganz normale Familie gewesen, weder in der Kirche noch in der Opposition aktiv, betont Geißler. 1988 gingen sie zum ersten Mal zu einer Demo in Leipzig gegen eine weitere Anlage zum Abbau von Braunkohle. Entscheidend war die Kommunalwahl im Mai 1989. Ihr Mann und sie strichen jeden einzelnen Kandidaten der Einheitsliste auf dem Wahlzettel sorgfältig durch. Hinterher lasen sie in der offiziellen Statistik, in ihrem Stadtviertel hätten nur vier Leute mit Nein gestimmt. "Die Manipulation war offensichtlich, es mussten 15 bis 20 Prozent sein. Ärger und Unmut waren groß. Viele hatten das Gefühl, die wollen nie was ändern." Genau das war ihre Motivation, als Karin Geißler und ihr Mann sich im September an den Demonstrationen beteiligten.

Sie hatten weder einen Ausreiseantrag gestellt noch versucht über Ungarn abzuhauen, wie viele andere, die Geißler als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet. Sie wollten die DDR verändern. Am Arbeitsplatz tippte sie in der Mittagspause heimlich Flugblätter der Opposition in den Computer und druckte fünf bis zehn Exemplare aus, die sie verteilte. "Bei den Demonstrationen haben wir uns abgewechselt. Es ging immer nur einer hin, weil man nie wusste, ob der zurückkommt, und wir hatten zwei kleine Kinder", sagt Geißler. Die Demonstranten wurden immer mehr. "Jeder bringt noch jemanden mit, war die Devise", sagt sie.

Als die Polizei bei den großen Montagskundgebungen Anfang Oktober in Leipzig nicht eingriff, atmeten alle auf. Nach dem 9. November, dem Tag des Mauerfalls, tauchten immer mehr Plakate mit dem Spruch: "Wir sind ein Volk", auf. Mit Währungsunion und Einheitsvertrag wurde den Geißlers klar, dass das Ziel, die DDR zu verändern, keine Chance hatte. "Es hätte manches besser, manches schlechter werden können. Ich trauere dem nicht nach", sagt Geißler. Bereits 1990 verloren sie und ihr Mann ihre Arbeit. Er fand in München eine neue Anstellung, für sie war es schwierig, weil es keine Kindergärten oder Horte gab. Da war es naheliegend, dass Geißler ausgerechnet beim Frauenstreiktag 1994 wieder aktiv wurde.

Als katastrophal empfindet Geißler die Pegida-Aufmärsche in Dresden, die sich an die Ikonografie der Montagsdemonstrationen von 1989 anhängen. Für sie ist das auch eine Spätfolge: Ausländer gab es kaum in der DDR und bis heute herrsche eine latente Unzufriedenheit.

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