Süddeutsche Zeitung

Fürstenfeldbruck:Dem Grauen entkommen

Abba Naor erzählt von seinem Überleben des NS-Terrors

Von Katharina Proksch, Fürstenfeldbruck

Heute werden in der KZ-Gedenkstätte Dachau Kaffee und Kuchen, belegte Brote und eine Auswahl an warmen Speisen gereicht, weiß Abba Naor von seinen Besuchen dort. 1945, als er auf dem Todesmarsch vom Arbeitslager Kaufering ins KZ nach Dachau war, gab es dort nicht mehr eine kleine Schüssel Suppe am Tag und eine Scheibe Brot. Er überlebte vier Jahre lang in KZ-Arbeitslagern, wovon er regelmäßig vor Schulklassen erzählt. Am Donnerstag hat er seine Geschichte an zwei elfte Klassen der Berufsschule Fürstenfeldbruck weitergegeben.

Naor war gerade mal 13 Jahre alt, als 1941 in Litauen der Holocaust begann und er mit seinen Eltern und den beiden Brüdern die Stadt Kaunas verlassen musste. Die Familie gehörte zu den 250 000 Juden in Litauen, von denen am Kriegsende nur noch vier Prozent gelebt haben. Die Familie flüchtete bis nach Vilnius, aber auch in dieser Region wurde die jüdische Bevölkerung schon "von der Straße gezerrt" und ermordet. Vom Vater getrennt, machte sich die Mutter mit den Söhnen auf den Weg zurück nach Kaunas, wo sie sich bei der Tante wieder trafen. Mit tausenden anderen Juden wurden sie von den Nazis in ein Ghetto gesperrt: Naors älterer Bruder wollte gerade Lebensmittel holen, als er erschossen wurde, seine Eltern mussten den ganzen Tag arbeiten. Naor, in Begleitung von "Angst und Hunger", musste auf seinen kleinen Bruder aufpassen und hat vor den Machthabern und ihren Familien gesungen, um an Essen zu kommen. Die Biografie "Ich sang für die SS" erzählt seine ganze Geschichte.

Im Juli 1944, als die Gestapo das Ghetto auflöste und "Arbeitsunfähige", darunter auch Kinder, umbrachte, konnte sich sein Bruder im Kachelofen verstecken. Die Familie wurde mit anderen Überlebenden ins KZ Stutthof bei Danzig gebracht. Naor sah seine Mutter und seinen Bruder dann noch ein letztes Mal, bevor beide in Auschwitz vergast wurden. Von seinem Vater getrennt, wurde Naor in einem Viehwaggon nach Utting verfrachtet und errichtete mit Mithäftlingen Baracken. Es war eines von elf Außenlagern des KZ Dachau zwischen Türkenfeld und Türkheim, Kaufering und Utting. Unter erbärmlichsten Umständen - die Läuse lebten in den von den Holzschuhen aufgescheuerten Wunden - mussten die Inhaftierten täglich Fertigbetonteile bauen, bekamen einen Becher Suppe und hofften auf eine Brotscheibe. Wenn Naor und seine Freunde Essen für die Wachleute besorgen sollten, stahlen sie die Kartoffeln aus dem Schweinetrog. "Wir alle, Schweine und Juden, hatten eines gemeinsam: Wir waren zum Tode verurteilt."

"Ein Wunsch" sei für Naor in Erfüllung gegangen, als er als Heizer einer Lokomotive und später als Lokführer arbeiten konnte. Im April 1945 ließ er sich, in der Hoffnung, seinen Vater wieder zu treffen, nach Kaufering versetzten. Zwei Monate musste er täglich Zementsäcke schleppen. Seinem Vater begegnete er nicht. Als die SS im April das Lager auflöste, lief er mit tausenden Mithäftlingen den Todesmarsch nach Dachau. "In Fürstenfeldbruck standen Frauen mit Wassereimern am Wegesrand, bis sie weggescheucht wurden", erinnert sich Naor. Am 2. Mai 1945 befreiten Soldaten der US-Armee die Gefangenen. Seinen Vater traf Naor in einem Lager für Überlebende. Der Vater blieb in München, doch Naor zog es nach Israel. Seinen Frieden mit Deutschland habe er aber gefunden, schließlich seien sein Vater und einige von Naors Kindern mit Deutschen verheiratet. Auf die Frage, wo seine Heimat sei, antwortete er, da, wo seine Kinder leben: Los Angeles, Frankfurt, Berlin und München. Und seine Freunde treffe er auf dem Friedhof, sagte er.

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Quelle:
SZ vom 24.11.2017
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