Süddeutsche Zeitung

Fürstenfeldbruck:Das Ende der Nummer eins

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Sie war die erste im ganzen Landkreis. Nun ist sie die letzte, die dicht macht: Gertraud und Bernd Loibl müssen ihre Videothek "Video Number One" in Bruck schließen. Mit Streamingdiensten können sie längst nicht mehr mithalten

Von Stefan Salger, Fürstenfeldbruck

Nun also kommt das, was kommen musste. Und das ist kein Happy End. Mit Happy Ends kennt sich Bernd Loibl aus. Fast alle Filme, die in seinen Regalen liegen, wenden sich nach einigen Irrungen und Wirrungen zum Guten. Diesmal ist es anders. Im realen Leben muss Loibl seinen Laden "Video Number One" schließen. Für den 76-Jährigen ist die Aufgabe der letzten Videothek im Landkreis so etwas wie eine Tragödie in 3D: "Da ist schon Wehmut dabei." Am 1. August beginnt der Ausverkauf der DVDs und Videokassetten. Die werden für ein paar Euro gehen, diesmal ohne Wiederkehr. Ende September fällt dann der Vorhang.

Nein, nicht dass dies überraschend käme. 2016 besuchte die SZ Gertraud und Bernd Loibl ein erstes Mal, weil ihr Laden an der Dachauer Straße damals schon so etwas wie ein sehenswertes Relikt aus einer Zeit war, die im Countdown auf die Null zusteuert. Mit der Überschrift "Abspann auf Raten" war eigentlich schon alles gesagt, auch wenn die Loibls noch auf das zu hoffen schienen, was sich bei ihnen bis unter die Decke gestapelt tausendfach findet: eine unvorhersehbare Wendung, ein Wunder. Man musste aber kein Prophet sein, um zu sehen, dass es eng wird. 2018 war die Existenz der Videothek sogar für die Bild-Zeitung Sensation genug, um einen Reporter vorbeizuschicken.

Loibl sagte der SZ damals in einer Mischung aus Schicksalsergebenheit und Tapferkeit: "Es macht immer noch Spaß." Aber nun trifft es ihn doch. Das Haus ist verkauft worden, der Eigentümer hat den Loibls gekündigt, weil dort ein Neubau hochgezogen werden soll. "Ich habe anfangs noch überlegt, ob ich mich wehren soll, aber es macht wohl keinen Sinn mehr". Denn eine ganz andere Abrissbirne setzte dem Geschäft bereits zuvor ordentlich zu: Corona. Die Pandemie löste einen regelrechten Boom von Streamingdiensten wie Netflix, Amazon Prime oder Disney Plus aus. Die Welt durfte Mitte März nicht mehr vor die Haustür gehen. Und so suchte sich die Welt eben Alternativen und saugte sich die Filme durch Glasfaserleitungen. So ist das eben. Video on Demand. So was klingt in Loibls Ohren schrecklich. Und es klingt in den Ohren der verbliebenen Stammgäste klinisch und bar jedes Zaubers. Nun gut, auch schon die Entwicklung von der guten alten Videokassette hin zur DVD war ja in gewisser Weise ein ernüchternder Rückschritt. Die Kassette konnte noch Bandsalat produzieren, sie konnte rauschen und flimmern. Sie konnte zicken. Oder sie konnte nicht zicken. Sie hatte irgendwie Charakter, einen eigenen Willen. Schob man die Kassette in den Videorekorder, war das schon Spannung pur, noch bevor man den Thriller mit einem Knopfdruck startete. 90 Minuten Filmgenuss konnte man förmlich spüren und in Händen halten. Die DVD war dann schon pflegeleichter. Immerhin hatte sie noch die Hülle mit Filmtitel und Szenenfoto. Und man musste natürlich den Weg in die Videothek auf sich nehmen.

Vielleicht kann man es vergleichen mit der E-Mobilität. Jeder weiß, dass sie kommen muss und dass es keine Alternative gibt. Umso mehr genießt man die Ausfahrt mit dem bollernden Oldtimer oder Motorrad. So herrlich unvernünftig. Video on Demand ist vernünftig, funktioniert immer. Es gibt alle Filme dieser Welt. Jederzeit. Für ein paar Cent oder per Flatrate.

Damals, vor vier Jahren, schien die Welt trotz der düsteren Wolken am Horizont noch halbwegs in Ordnung zu sein. Loibls Frau lachte vor dem Filmplakat von "Tomb Raiders - die Wiege des Lebens" in die Kamera. Die Regale waren voll mit Streifen wie "Frau Müller muss weg", "Im Rausch der Sterne" oder "Kein Ort ohne dich". Den Ort müssen die Loibls nun aber finden. Gertraud Loibl hat schon vor einem Jahr einen Nebenjob angenommen. Und Bernd Loibl wird an jenem Ort erst mal auf der Couch sitzen, die Füße hoch legen und seine Gedanken sortieren. Er wird sich überlegen müssen, wie sich all die Stunden eines Tages ohne Videos und vor allem ohne die sehr geschätzten Stammkunden gestalten lassen. Das war ja sein einziges wirkliches Hobby. Keine Gespräche mehr in "seinem" Laden. Keine Gespräche über diesen oder jenen Film. Keine Fragen, was an Neuem reingekommen ist. Mehr als 60 Jahre im Verkauf sind dann zu Ende. 1979 war ihre Videothek die erste weit und breit. Schon seit vier Jahren ist sie die letzte weit und breit. Den finalen Todesstoß brachte zwar letztlich die Kündigung, und der Boden bereitet wurde von Corona. Hinzu kamen aber noch gesundheitliche Probleme: "Ich war in diesem Jahr mehr im Krankenhaus als im Laden." Insgesamt sechseinhalb Wochen war dicht.

Dort, wo Video Number One steht, wird also bald eine große Lücke klaffen: eine Baugrube. Dann beginnt ein neues Kapitel. "Es ist so, wie es ist", sagt Loibl. Kein Zweifel: Es ist viel schlimmer als Bandsalat.

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Quelle:
SZ vom 29.07.2020
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