Fürstenfeldbruck:Begehrte Jodtabletten

Fürstenfeldbruck: Eine von den Müttern gegen Atomkraft organisierte Demonstration, zwei Jahre nach dem Unfall in der Ukraine.

Eine von den Müttern gegen Atomkraft organisierte Demonstration, zwei Jahre nach dem Unfall in der Ukraine.

(Foto: Ossi Scheider/Landratsamt)

Wie Menschen, Behörden und die SZ auf die Katastrophe von 1986 reagierten

Manche Bürger reagierten schneller als Behörden und Medien auf die Atomkatastrophe von Tschernobyl. Sie rannten in die Apotheken und kauften Jodtabletten. Sehr gefragt waren Geigerzähler, weil die Behörden keine oder sich widersprechende Auskünfte gaben. Das Brucker Gesundheitsamt konnte mangels Geräten die radioaktive Belastung nicht messen. Der Leiter der Behörde empfahl am 5. Mai, Kinder nicht in Sandkästen oder auf dem Rasen spielen zu lassen.

Vor dem GAU von Tschernobyl hatten sich fünf Unfälle in Atomkraftwerken ereignet, darunter in Windscale und Harrisburg, die der Kategorie "GAU" zugerechnet wurden. Es waren Vorfälle, die als größte anzunehmende Unfälle mit kontrollierbaren Folgen galten. Am 26. April 1986 ereignete sich die Katastrophe in der Ukraine, die diesen Rahmen sprengte. Zwei Tage danach meldete die Deutsche Presseagentur einen "Schaden an einem Atomreaktor" in der Sowjetunion. Vier Tage später erreichte die radioaktive Wolke Bayern.

Der Brucker Lokalteil der Süddeutschen Zeitung widmete sich am Samstag, 3. Mai, erstmals dem Thema. "Atom-Diskussion hat den Landkreis erfaßt", lautete die Überschrift, die Ämter würden abwiegeln, heißt es in dem Bericht. Die exakte Belastung für den Landkreis sei nicht festzustellen, weil sich die nächstgelegene Messstation in München befinde. SZ-Karikaturist Wini Dietl verspottete die Katastrophenschützer in der Kreisbehörde als Nebelwerfer. Am Montag verknüpfte das Blatt einige beschauliche Fotos von Ausflüglern im Biergarten und beim Sonnenbad mit einem doppeldeutigen Hinweis auf das "strahlende Wochende".

Die Bürger griffen zur Selbsthilfe und besorgten sich Geigerzähler. Der Leiter der Brucker Molkereigenossenschaft forderte die Bauern auf, ihre Kühe nicht mehr auf die Weiden zu schicken. Die Verbraucherberatung riet vom Rasenmähen ab, weil dadurch Ablagerungen aufgewirbelt würden. Das Landratsamt ließ Spielplätze untersuchen. Mehr als eine Woche nach dem ersten Niedergang von Radioaktivität hatte die Kreisbehörde sechs Messstellen eingerichtet. Eine Milchprobe aus Haspelmoor ergab, dass der Grenzwert um das Dreifache überschritten wurde.

Berichte über die lokalen Folgen der Reaktorkatastrophe, über die Strahlenbelastung, die Haltung der Behörden sowie die Reaktionen der Bürger, die sich lieber auf Veranstaltungen von Umweltschützern und Grünen informierten, dominierten die Titelseite der SZ-Lokalausgabe in den ersten Wochen nach dem Unfall. Der Emmeringer Metzger Dieter Jakob kauft sich ein Spektrometer für umgerechnet 25 000 Euro, um seine Produkte zu untersuchen. Mitte Juni wurden 18 000 Becquerel auf einem Spielplatz in Gröbenzell gemessen.

Mit dem zeitlichen Abstand verstärkte sich die politische Debatte über Atomkraft. Mehr als 500 Menschen demonstrierten am 14. Mai 1986 in Bruck mit Plakaten und Transparenten gegen Atomkraft. Fast zur gleichen Zeit gab die Kreisbehörde Entwarnung: Die Strahlenbelastung sinke und habe fast wieder das natürliche Niveau erreicht. Landrat Gottfried Grimm (CSU) und der Maisacher Bürgermeister Gerhard Landgraf (SPD) sprangen zur Eröffnung ihrer Freibäder persönlich in die Fluten, um die Unbedenklichkeit zu demonstrieren. Immerhin stopfte sich keiner Molkepulver in den Mund, wie der bayerische Umweltminister Alfred Dick (CSU). Bei der Puchheimer CSU referierte ein Vertreter der Kraftwerksunion über die Notwendigkeit, eine Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf zu bauen. Die Siemens-Tochter sollte die Anlage bauen. Einwände wies er als Angstmache zurück.

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