Fürstenfeldbruck:Abspann auf Raten

Letzte Videothek

1979 eröffneten Gertraud und Bernd Loibl, die damals bereits ein Elektrogeschäft in Fürstenfeldbruck führten, eine Videothek.

(Foto: Günther Reger)

1979 verliehen Gertraud und Bernd Loibl die ersten VHS-Kassetten. Ihre Videothek war damals die erste und ist heute die letzte verbliebene in Fürstenfeldbruck. Das Internet beendete den Boom der Achtziger und leitete den Niedergang der Branche ein

Von Stefan Salger, Fürstenfeldbruck

Carl Carstens wird 1979 zum Bundespräsidenten gewählt. Und nach der Flucht des Schahs von Persien kehrt Ayatollah Khomeini aus dem Exil in den Iran zurück, getragen von der islamischen Revolution. In den deutschen Wohnzimmern ist da eine andere Entscheidung längst gefallen. Es war eine technische Revolution. Im Jahr 1979 hat sich das VHS-System gegen Betamax und das technisch anspruchsvollere Video 2000 von Grundig endgültig durchgesetzt. Die klobigen Videorekorder treten ihren Siegeszug an. Mit ihrer Hilfe lassen sich Unterhaltungssendungen wie "Dalli dalli", "Der große Preis" oder US-Serien wie "Bonanza" oder "Die Straßen von San Francisco" aufzeichnen. Und das Wohnzimmer wird zum Heimkino. Bernd und Gertraud Loibl haben damals ein Elektrogeschäft. 1979 schaffen sie sich ein zweites wirtschaftliches Standbein: Sie eröffnen die erste Videothek im weiten Umkreis. Es folgt ein wahrer Boom - Mitte der Achtzigerjahre gibt es allein in Fürstenfeldbruck sieben Videotheken.

37 Jahre nach der eher inoffiziellen Eröffnung steht Bernd Loibl hinterm Tressen. Im Bewusstsein, dass die Tage der Videothek gezählt sein dürften. Der letzte verbliebene Konkurrent, das in der Hasenheide ansässige Videocenter Dirrigl, hat vor ein paar Wochen geschlossen. "Videofilm-Leasing Video Nr. 1" steht auf der Visitenkarte. Die Nummer eins ist nun Einzelkämpfer. Keine Mitbewerber mehr weit und breit? Mitnichten. Die Konkurrenz lauert in der Tiefe des Internets und stößt unbarmherzig zu wie der Weiße Hai in Steven Spielbergs Schocker von 1975. Und auch diesmal ist die Schlacht längst entschieden. Auch wenn die Videokassette der Gründerzeit längst von zeitgemäßen Nachfolgern wie DVD und Blu-Ray-Disc abgelöst worden ist. Nicht einmal mehr die Industrie gewährt Videotheken ein paar Privilegien - weder schneller noch billiger als der Drogeriemarkt ums Eck erhält Gertraud Loibl, der die Videothek gehört, die Filme. Im Gegenteil: Sie muss viel mehr dafür zahlen, um sie verleihen zu dürfen. Zudem gibt es die Streamingdienste im Internet und die illegalen Download-Portale.

Ein paar Jahre wird es wohl noch gut gehen. Ein paar Jahre dürften die treuen Stammkunden noch bleiben. Nachdem die Dirrigls dicht gemacht haben, kommen vielleicht sogar ein paar Kunden dazu. Leute, die mit den Loibls älter geworden sind. Leute, die manchmal noch jede Woche kommen und nach Neuheiten fragen. Die lieber in den Laden an der Dachauer Straße kommen, um zwischen mannshohen Regalen zu flanieren, in denen Blockbuster vom Schlage "Titanic" Rücken an Rücken stehen mit anspruchsvollen Spartenfilmen. Horror, Action, Liebesschnulze, Tragödie: alles da. Loibl ist jetzt um die 60. So etwa in fünf Jahren wird er wohl ganz zusperren. Ein Anflug von Wehmut? "Nein", sagt er. So ist das eben. Neue Trends kommen und gehen. Und die zurückliegenden Jahre waren ja durchaus gut. Es ist ein nüchterner Blick zurück. Ganz ohne Zorn. Sieht nicht unbedingt nach dem klassischen Happy End aus, wohl aber nach einem erwartbaren Abspann und einem einigermaßen versöhnlichen Ende.

1979 werden in ganz Westdeutschland etwa 270 000 Geräte verkauft, gut und gerne 3000 Mark muss man dafür meist hinblättern. Ein Vermögen. Bereits sechs Jahre später wird in etwa sieben Millionen Wohnungen ein Videogerät stehen - also in jedem vierten Haushalt.

Bernd Loibl ist damals fasziniert von der Technik. Für seinen Laden "Elektro Keil" an der Dachauer Straße, der später in "Elektrospiegel" umbenannt wird, kauft er 1979 also die ersten Geräte. Klobige Dinger sind das, mit großen Schaltern und Knöpfen, die da plötzlich zwischen Fernsehern und Waschmaschinen in der Auslage stehen. Aber was machen Leute, die so ein sündteures Ding kaufen? Fernsehsendungen aufnehmen - das ist die Pflicht. Aber die Kür, das ist das Abspielen von Kinofilmen. Und deshalb starten die Loibls im gleichen Jahr auch noch mit dem Filmverleih. Eine Goldgrube, in die zunächst freilich erst mal ordentlich Geld versenkt werden muss. Universum verlangt für ein Paket mit 24 Filmen 4000 Mark. Das sind durchschnittlich 167 Mark für eine Kassette - egal, ob man die für sich behält oder verleiht oder verkauft. Ein Wahnsinn. Dafür gibt es dann den Historienschinken "El Cid" oder das Epos "Cassandra Crossing" von 1976. Die Mutter aller Katastrophenfilme ringt Cineasten heute wahrscheinlich nur noch ein müdes Lächeln ab. Außer, sie mögen Retro. Dann haben sie vielleicht auch noch einen Videorekorder zu Hause.

Sechs Kopien von "Rocky I" mit Sylvester Stallone schafft Loibl später an, zum Stückpreis von 349 Mark. Es ist schlicht zu faszinierend: Einfach eine Kassette reinschieben, wann immer es einem passt. Gebannt sitzt er auch selbst stundenlang vor der Glotze und zieht sich von der ersten bis zur letzten Minute alle 24 Filme rein. Die liegen dann auf den Waschmaschinen, drei Tage Leihen kostet 14 Mark. Etwas später werden unter der Ladentheke dann die ersten Sexfilme verkauft. 1981 macht die zweite Videothek auf: Inge und Rudolf Dirrigl, die phasenweise bis zu 20 Teilzeitkräfte beschäftigen. Mitte der Achtzigerjahre schießen Eine-Mark-Videotheken aus dem Boden. Loibl führt die Filmflatrate ein - fünf Mark pro Tag. Bestseller kommen und gehen, manche bleiben bis heute: "Harry Potter" oder "Krieg der Sterne". Spartenfilme wie "Betty Blue 37 Grad am Morgen" schaffen es nicht mehr von der VHS-Kassette auf die DVD oder die höher auflösende Blu-Ray. An die 15 000 Medien stehen bei Loibl noch im Regal. Sie werden verliehen und nach einiger Zeit zu Preisen zwischen fünf und acht Euro verkauft.

Der Tresen trennt den Laden in den frei zugänglichen Bereich und in den Erotikbereich, der den Erwachsenen vorbehalten ist und mit dem sich angesichts niedrigerer Einkaufspreise ganz ordentlich verdienen lässt. Die Fenster zwischen dem Schaukasten, in dem Plakate von Filmen wie "Alles steht Kopf" oder "The last Witch Hunter" hängen, und der Eingangstür aus massivem Stahl sind vergittert. In den früheren Laden, der noch nicht so gesichert war, ist irgendwann in den Achtzigern eingebrochen worden. Die Täter schaffen Filme, Videorekorder und Filmkameras für an die 50 000 Mark weg. Cineasten können das nicht gewesen sein. Denn in jedem zweiten Krimi ist zu sehen, wie Ermittler arbeiten. Und dennoch hinterlassen die drei Spitzbuben aus Eichenau prächtige Fingerabdrücke, an denen Sherlock Holmes seine wahre Freude gehabt hätte, und landen alsbald selbst hinter Gitterstäben.

Bernd Loibl selbst sieht sich mittlerweile nur noch wenige Filme an, informiert sich vor allem über Zusammenfassungen in Fachmagazinen. Über den kleinen Bildschirm überm Tresen flimmert eine TV-Quizshow. Der angeblich guten alten Zeit trauert Loibl nicht nach. Am Rande des Tresens liegt noch ein Stapel alter Videokassetten. Teils originalverpackt. Relikte aus jener Zeit. Als man den Bandsalat noch als gottgegeben hinnahm, ebenso das flackernde Bild. Da liegen die Klassiker in ihren Papphüllen: Der surrealistische Streifen "Blue Velvet" von 1986. Oder "The Crow". Loibl kommt jetzt doch kurz ins Sinnieren. Richtig. Das ist doch der Science-Fiction, bei dessen Dreharbeiten Bruce Lees Sohn Brandon 1993 durch einen Unfall mit einem Revolver ums Leben gekommen ist.

Der Niedergang der Videotheken-Branche erfolgt nicht so Knall auf Fall. Schleichender. Ausgerechnet die jungen, kinobegeisterten Kunden bleiben einfach weg. Und die Industrie würde sich die Herstellung der Medien am liebsten ganz sparen und vollends aufs immer leistungsfähigere Internet setzen. "Es macht immer noch Spaß", sagt Loibl. "Aber wenn ich heute jung wäre, würde ich es nicht mehr machen." Die beiden längst erwachsenen Kinder haben sich andere Jobs gesucht.

Es ist schon verrückt. Videoverleih - das klang in den Siebzigerjahren topaktuell. Und jetzt steht Bernd Loibl im Ladenbereich an der Dachauer Straße. An einer Wand hängen noch ein paar Taschenlampen sowie Kopfhörer als Restbestände des ebenfalls von der Zeit überholten Elektrogeschäfts. Aussichtsreicher und zukunftssicherer erscheint jetzt ausgerechnet ein zusätzliches wirtschaftliches Standbein, das in den Siebzigern eher als altbackenes Auslaufmodell gegolten haben mag und auf das damals wohl niemand einen Pfifferling gegeben hätte. Draußen am Schaufenster steht in großen Lettern: "Annahme - Wäsche, Hemden, Leder, Teppiche" - es ist die Reinigungsannahmestelle von Gertraud Loibl.

Kaum anzunehmen, dass irgendwann auch Videotheken eine solche Renaissance vergönnt ist. Wahrscheinlicher schon, dass sie das Schicksal teilen mit den Halunken aus dem Western von 1957 mit George Montgomery in der Hauptrolle. Ihrem Aufwind setzt der Showdown ein Ende. Bezeichnender Titel des Streifens: "Die Würfel sind gefallen".

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