Europawahl im Landkreis Fürstenfeldbruck:Europa auf der Spur

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Wie wirkt sich die Brüsseler Politik auf das Leben in den Städten und Gemeinden aus? Das fragt die SZ Menschen aus dem Landkreis. Die meisten sehen im Zusammenrücken der Staaten und in offenen Grenzen einen unschätzbaren Vorteil. Wenn nur der Papierkram nicht wäre

Von Stefan Salger

Denkt man an Europa, kommt einem Brüssel in den Sinn. Ja doch, dort ist der Maschinenraum der Europäischen Union, dort sowie teils in Straßburg werden Gesetzentwürfe erdacht, überdacht, diskutiert, beschlossen. Diese wirken sich sodann in allen Städten und Gemeinden der derzeit 28 Mitgliedsländer aus. Vor unserer Haustür. Und so machen wir uns auf den Weg und fragen an einigen jener Türen, ob die EU nun Fluch ist oder Segen oder irgendwie auch mal beides.

Zunächst geht es an den "Fahnenigeln" von Fürstenfeldbruck vorbei, an denen die Partnerstädte vertreten sind. Wichita Falls liegt nicht auf dem Gebiet der EU, die mit dem Banner mit zwölf Sternen auf blauem Grund vertreten ist. Um so mehr das spanische Almuñécar, das italienische Cerveteri, das französische Livry-Gargan und das kroatische Zadar. Fast 39 000 Einwohner zählt die Kreisstadt. Bürger aus 130 Nationen sind hier gemeldet.

Der Offizier

Martin Jungbauer ist im Fliegerhorst für internationale Kooperation zuständig und fliegt am Dienstag nach Rumänien. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Eine sehr internationale Sichtweise hat auch Martin Jungbauer. Der 57 Jahre alte Oberstleutnant sitzt entspannt in seinem Büro im ersten Stock der blau gestrichenen Offizierschule der Luftwaffe. Er ist der zuständige Stabsoffizier für internationale Kooperationen. Streng genommen sind für ihn nicht die EU-Außengrenzen von Bedeutung, sondern eher jene des Nato-Militärbündnisses. Und doch sind sehr viele Partner EU-Mitgliedstaaten. Jungbauer, der seit 2007 in Bruck wohnt, ist ein Fan solcher Gemeinschaften. Die Offizierschule ist in zahlreiche Austauschprogramme eingebunden. Da gibt es den militärischen Ableger des Hochschulangebots "Erasmus", die European Air Force Academies oder die International Weeks, bei denen neben dem militärischen auch der soziale und kulturelle Austausch gepflegt wird. Am Dienstag wird Jungbauer gemeinsam mit dem Kommandeur der Offizierschule, Brigadegeneral Michael Traut, nach Rumänien fliegen. In Brasov bei der rumänischen Luftwaffenakademie wird es ums Programm 2020 gehen. Wer sich gut kennt, kann sich im Fall der Fälle aufeinander verlassen. Beim "Kennenlernenwollen" im zivilen Bereich freilich hapert es nach Jungbauers persönlicher Ansicht etwas. Mit Sorge beobachtet er die Entwicklung in einigen EU-Staaten, die sich eher abschotten und eigene Wege gehen wollen. "Das ist schon bedenklich", sagt der gelernte Flugabwehrraketenoffizier und kneift die Lippen ein wenig zusammen. Bei der Bundeswehr geht es in die andere Richtung. Sie wächst mit den Partnern stärker zusammen. Da gibt es das multinationale Kommando in Ulm, die deutsch-französische Brigade, das multinationale Korps in Polen oder auch das deutsch-niederländische Korps. In Bruck unterrichtet ein Lehrer aus Frankreich, an einem französischen Standort im Gegenzug ein Lehrer des Fliegerhorsts. Man kennt sich, man schätzt sich. Und man ergänzt sich in den militärischen Fähigkeiten bei gemeinsamen Auslandsmissionen. In den vergangenen Jahren war Jungbauer in Spanien, Frankreich und Großbritannien unterwegs. Ach, Großbritannien. Privat verfolgt Jungbauer den bevorstehenden Brexit mit Sorge. Beruflich immerhin würde sich dadurch nichts ändern. Die Briten bleiben ja Partner in der Nato.

Spielt es also überhaupt eine Rolle für die Bundeswehr, ob die EU fortbesteht? Auf jeden Fall, sagt Jungbauer ohne zu zögern, "wir würden das spüren". Denn auch hier gilt: Nur gemeinsam ist man stark, und die europäischen Länder haben gemeinsam "eine stärkere Stimme", auch in Gesprächen mit den USA. Die gemeinsame militärische Präsenz sichere im Kern vor allem eines: den Frieden!

Der Deutsch-Brite

Andrew Briginshaw ist Deutsch-Brite und glühender EU-Verfechter. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Andrew Briginshaw ist Brite, genauer Schotte. Und Deutscher. Seine Frau ist Irin und besitzt zudem die US-Staatsbürgerschaft. Klingt ziemlich international. Und das ist gut so. "Ich bin nämlich totaler Europafan", sagt der 64-Jährige. Briginshaw ist ein ruhiger Mann mit grauem Bart, der gerne lacht. Sogar dann, wenn er von Rückschlägen berichtet. Er liebt und schätzt Deutschland und lebt gerne in Germerswang. Das hier ist längst seine zweite Heimat geworden. Müsste er eine dritte Heimat nennen, würde Briginshaw wahrscheinlich lächeln und Europa nennen. Denn er ist ein glühender Verfechter der europäischen Idee und kann mit Blick auf die Brexit-Befürworter und die durch die britischen Boulevardzeitungen geschürte Stimmung nur den Kopf schütteln. Sein Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft war gleichwohl nicht ganz einfach. Dem studierten Geografen, der seit 1983 bei einer Münchner Vermessungsfirma beschäftigt war und der seit August in Rente ist, lief fast die Zeit davon. Im Juni 2016 stimmte eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU. Für Briginshaw war es das Signal, noch rechtzeitig einen deutschen Pass zu beantragen, um nicht irgendwann einfach aus seiner Wahlheimat herauskomplimentiert zu werden oder Probleme mit Rente und Krankenversicherung zu bekommen. Den deutschen Pass erhalten, ohne den ursprünglichen abgeben zu müssen, das ist für EU-Bürger möglich. Das Landratsamt habe ihn aber immer wieder vertröstet und auch mal mitgeteilt, dass er sich bis zum nächsten Termin doch bitte ein Jahr gedulden möge. Der Wahl-Germerswanger fürchtete, dass es eng wird bis zum offiziellen Austrittstermin 2019. Bürokratie werde gerne Brüssel angelastet, manchmal laufe aber offenbar auch auf kommunaler Ebene nicht alles wie am Schnürchen. Erst als sich Briginshaw in seiner Not an den Maisacher Kreisrat Gottfried Obermair wandte, ging alles ganz schnell und der Brite konnte im Januar 2018 seine Einbürgerungsurkunde in Empfang nehmen. Somit bleibt Andrew Briginshaw ein Bürger der Europäischen Union, Brexit hin oder her. Und natürlich wird er am Sonntag bei der Europawahl seine Stimme abgeben. Dass viele Menschen in der alten Heimat und auch einige Verwandte der EU überdrüssig sind, kann er nicht verstehen. "Dieser aufkommende Nationalstolz, das finde ich furchtbar." Sein Vater habe noch den Krieg erlebt, auch deshalb weiß er so eine grenzüberschreitende Partnerschaft zu schätzen. Und wie wird sich das nun entwickeln mit Irland und dem zu Großbritannien gehörenden Nordirland? Werden die Konflikte wieder aufflammen? Schon richtig: Brüssel sei manchmal weit weg und wirke nicht transparent. Aber die Vorteile überwiegen deutlich: "Zusammen ist viel besser als gegeneinander, wir sollten nicht rückwärts gehen. Denn die gute alte Zeit ist gar nicht gut". Ein Relikt aus jenen Tagen steht im Schrank: ein großer Topf voller Münzen und Geldscheine aus der Zeit vor der Währungsunion. So was brauche niemand, sagt Briginshaw und schaut aus dem Fenster ins Grüne. Auch auf die Umrechnerei kann er verzichten.

Der Bauunternehmer

Bauunternehmer Mario Kaufhold sieht freilich noch Bedarf für einige Nachbesserungen in der Europäischen Union. (Foto: Privat)

Das gilt gewiss auch für den Bauunternehmer Mario Kaufhold, den man nur am Handy erreicht. Denn er ist in Thüringen auf Baustellen unterwegs. Dort hat der auf Sanierungen spezialisierte Industriedienstleister aus Emmering einen Firmenableger. Der 47 Jahre alte Geschäftsführer denkt kurz nach. Fluch oder Segen? Ein bisschen Fluch sei gewiss dabei. Nach der Gründung der EU habe man es versäumt, den Weg über die wirtschaftliche Verbindung hinaus konsequent fortzusetzen. Gerade bei der Außen- und der Finanzpolitik sprechen die Europäer noch mit zu vielen verschiedenen Stimmen. Das werde spürbar, wenn die EU es mit den großen Playern vom Schlage der USA oder China zu tun bekommt.

Im Alltag ist vor allem die Bürokratie für Kaufhold ein Problem. Dabei hat er es noch vergleichsweise gut. Seine Firma bewirbt sich kaum um große kommunale Projekte, muss also nicht im Zuge europaweiter Ausschreibungen mit Billig-Anbietern aus Polen oder Portugal konkurrieren. Kaufhold hat den Eindruck, dass die zahllosen Regelungen und Auflagen, die von Brüssel kommen, in Deutschland besonders akribisch umgesetzt werden, während man das in manchem südlichen Land eher locker nimmt. Jüngstes Beispiel: die Datenschutz-Grundverordnung. "Das grenzt an Schwachsinn." Und da gibt es auch noch die Arbeitszeiterfassung, detaillierte Regelungen zum Gesundheitsschutz und zur Arbeitssicherheit und Dokumentationspflichten. Anträge waren früher mit einem Blatt zu erledigen, "heute sind es zehn Seiten - und die Prüfung dauert zwei Monate". Trotzdem: Es gibt auch im wirtschaftlichen Bereich viele Vorteile. Da wäre die Sache mit den Arbeitskräften. Viele der 80 Mitarbeiter kommen aus Ländern wie Kroatien, Polen, Portugal oder Spanien. Ohne die ginge gar nichts mehr auf dem Bau. Und da sind auch die Subunternehmen aus anderen EU-Ländern. Letztlich, findet Kaufhold, der ja auch Bürger ist, sei die EU trotz des unbestreitbaren Nachbesserungsbedarfs auf einigen Feldern letztlich doch eher ein Segen.

Die Spediteure

Schon allein von berufswegen sind offene EU-Binnengrenzen für Spediteur Frank Hellwig und seine Tochter Helena sehr wichtig. (Foto: Stefan Salger/oh)

Offene Grenzen sparen Zeit, Geld und Nerven. Frank Hellwig, 52, und seine 20 Jahre alte Tochter Helena sitzend entspannt im Büro der Internationalen Spedition Hirsch an der Zadarstraße. Während in ihrem Rücken geschäftig telefoniert wird und Waren vor allem Richtung Türkei und Zentralasien auf den Weg gebracht werden, nehmen sie sich Zeit fürs Thema Europa. Seit 1969 existiert das Familienunternehmen, ein zweites Standbein gibt es in Mailand. Insgesamt gibt es 15 Mitarbeiter. Für Frank Hellwig, der ebenso wie seine Tochter "natürlich wählen" wird, bietet die EU vor allem politische Sicherheit. Aber auch wirtschaftlich gebe es viele Vorteile. "Früher mussten wir jede Einzelsendung an den Grenzen separat verzollen." Am Brenner stand ein Lastwagen schon mal einen halben Tag. Vor allem, wenn er Sammelgut mit 30 separaten Sendungen transportierte. Heute ist alles viel besser planbar. Außerdem gibt es Rechtssicherheit bei Streitigkeiten und "Stabilität in der Währung". Ebenso wie der Bauunternehmer Kaufhold mahnt Hellwig aber an, den manchmal praxisfernen Paragrafendschungel zu lichten. Aus der Ferne werde da etwa entschieden, dass Fahrer pro Woche 45 Stunden am Stück pausieren müssen und in dieser Zeit nicht mehr in der Fahrerkabine nächtigen dürfen. Viele Fahrer aber wollen gar nicht ins Hotel, und gerade in südlichen Ländern gebe es nicht immer bewachte Parkplätze für die wertvolle Fracht.

Ganz allgemein findet Hellwig es nicht gut, dass ein kleines EU-Land mit einem Veto alle 27 Partner blockieren kann und dass das EU-Parlament so wenig Entscheidungsbefugnisse hat. Seine Tochter Helena, die sich um die Webseite der Firma sowie die Präsenz in den sozialen Medien kümmert, kann und will sich gar nicht vorstellen, wie das wäre mit Grenzen. "Wir sollten uns alle mehr als Europäer fühlen."

Die Hoteliers

Von offenen Grenzen profitieren Irera Music, Uschi Kohlfürst und Melita Groso vom Hotel Fürstenfelder. (Foto: Carmen Voxbrunner)

"Five Overnights", sagt ein Mann im Anzug, der mit seinem Rollkoffer an der Rezeption auscheckt, "Room number four six". Viele verschiedene Sprachen sind im Hotel Fürstenfelder zu hören. Das ist Alltag. Und Europa ist hier Alltag. In der Lobby warten die Chefin Uschi Kohlfürst und zwei Mitarbeiterinnen: Melita Groso aus Bosnien, 43, und Irena Musić aus Kroatien, 34. Die beiden sind an sich schon Beleg für die friedensstiftende Kraft Europas: Sie kommen aus Ländern, die im Jugoslawien-Krieg auf verschiedenen Seiten der Front standen, verstehen sich aber als Kolleginnen blendend. Von den 78 fest angestellten Kräften kommen 22 aus EU-Ländern und zehn weitere aus Ländern wie Togo, Indonesien und Afghanistan. Es ist von Vorteil, wenn Hotelbedienstete sich mit Gästen oder auch untereinander über Deutsch oder Englisch hinaus in weiteren Sprachen verständigen können. Lediglich 60 Prozent der Gäste kommen aus Deutschland. Für die Hotelchefin sind die offenen Grenzen gerade mit Blick auf die Mitarbeiter ein absoluter Gewinn.

Die studierte Lehrerin Melita Groso kümmert sich in dem Brucker Hotel um das Frühstücksbuffet. Zweimal im Jahr kehrt sie im Urlaub zurück in ihr Heimatland. Sie fühlt sich hier wie dort zu Hause, der Sohn hat einen deutschen Pass - eigentlich fühlt sie sich schlicht als Europäerin. Zwischen Kroatien und dem EU-Beitrittskandidaten Bosnien gibt es zwar noch eine Grenze. Bis zu zehn Stunden, wie früher, wartet man dort aber nicht mehr. Irena Musić hat Wirtschaft studiert und arbeitet an der Rezeption des Fürstenfelder. Vor fünf Jahren folgte sie Verwandten nach Deutschland, fing als Zimmermädchen an und lernte schnell Deutsch. Vielleicht werde sie später im Ruhestand zurückkehren nach Kroatien, mal sehen. Hotelchefin Uschi Kohlfürst empfindet dieses "Multikulti" als echte Bereicherung. Jeder bringe ein Stück Heimatkultur mit. "Es ist eine Bereicherung, dass nicht immer alles deutsch ist." Auch Nichteuropäer wie etwa Flüchtlinge gelte es besser zu integrieren - und Umwelt und Klima europaweit und global zu schützen. Klar werde sie zur Wahl gehen und sich eine Partei aussuchen, die dies voranbringen wolle.

Die Biobauern

Für die Biobauern Markus und Ingrid Britzelmair (mit Tochter Anna) bringt die Europäische Union einerseits Flächenprämien, andererseits aber auch ordentlich Papierkram. (Foto: Stefan Salger/oh)

Ingrid und Markus Britzelmair stehen auf der Wiese im Brucker Ortsteil Puch und erklären den mobilen Hühnerstall. Etwas später kommt das Thema Europäische Union zur Sprache. Und es wird klar, dass das ein Spagat ist. Biobauern sind eigentlich nicht gut auf die EU-Förderpraxis zu sprechen, die sich vor allem an der Größe orientiert. Einige Hundert Euro pro Hektar fließen an die Landwirte - als Direktzahlung für die Fläche sowie für eine umweltschonende Bewirtschaftung. Der Britzelmair-Hof ist mit 80 Hektar deutlich größer als die meisten ökologisch wirtschaftenden Betriebe. Trotzdem ist Markus Britzelmair nicht rundrum glücklich mit der Agrarpolitik. Der europäische Verbund sei "ganz wichtig". Aber das Problem bleibe, "dass nicht alle zu gleichen Bedingungen und Kosten wirtschaften". Mit der gigantischen Agrarindustrie etwa in Rumänien kann man in Bayern nicht mithalten. Die flächenbezogenen Prämien sollten im Sinne einer besseren Umverteilung bereits bei einer Größe von 700 oder 800 Hektar gekürzt werden, findet Britzelmair.

Vor allem aber klagt auch der Brucker Landwirt über ein Übermaß an Bürokratie. Sieben bis zehn Stunden sitze er pro Woche im Büro. Zeit, die für den Acker fehlt. "Und es wird immer mehr." Man müsse aber nicht nur auf Brüssel zeigen - auch der Verbraucher kann die Biolandwirtschaft fördern: indem er bereit ist, für bessere und gesündere Produkte auch etwas mehr zu bezahlen. An der EU will jedenfalls auch Markus Britzelmair nicht rütteln. "Nur gemeinsam geht's."

© SZ vom 25.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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