Süddeutsche Zeitung

EU-Wahl:Sehnsuchtsort Europa

Lesezeit: 2 min

SPD-Parlamentarierin Maria Noichl auf Wahlkampftour in Germering

Von Karl-Wilhelm Götte, Germering

Wenn Maria Noichl anfängt zu reden, heißt es sich anzuschnallen, denn sie hört so schnell nicht wieder auf. So ist es auch bei der SPD-Veranstaltung zur EU-Wahl in Germering. Die SPD-Europaabgeordnete, die sicherlich wieder ins EU-Parlament einziehen wird, sollte, so war es wohl gedacht, mit einer kürzeren Eröffnungsrede 60 Besucher im "Nachtasyl" der Germeringer Stadthalle zu Fragen rund um die EU animieren. Doch Noichl ist nicht zu bremsen und redet dann 50 Minuten lang, so dass Moderatorin Nussra Zamani vom SPD-Ortsverein lange warten muss, bis sie ihres Amtes walten kann.

Maria Noichl, 52, gilt als der heimliche Star in der bayerischen SPD, weil die Rosenheimerin so redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist - zumeist im bayerischen Dialekt. Das kommt bei der SPD-Basis auch in Germering gut an. Sie gehört zwar zum Landesvorstand der Partei, aber eine führende Rolle spielt die gelernte Fachlehrerin für Ernährung und Gestaltung bisher nicht. Sie behandelt fast jedes Thema mit der Aufzählung erstens, zweitens, drittens, um dann frei draufloszureden. Ihre Aufzählung liegt zeitlich dann immer so weit auseinander, dass die Zuhörer längst nicht mehr wissen, ist es jetzt zweitens oder drittens. Noichl fordert ihr Publikum, redet sie doch im Stakkato-Stil. Dabei baut sie Satzwiederholungen ein, damit die Versammlung gedanklich mitkommt. Sie fixiert ihr Publikum, während sie auf der Bühne hin und her geht. Mit der einen Hand hält sie das Mikrofon, mit der anderen gestikuliert sie, um ihre Aussagen zu unterstützen.

Noichl gehört dem EU-Parlament seit 2014 an. Damals musste sie sich mit Listenplatz 18 begnügen, jetzt ist sie auf Platz drei vorgerückt. Noichl redet vom "Sehnsuchtsort Europa" für die Menschen in Afrika. "Weil hier die Menschenrechte gelten", sagt sie, "besonders für die Frauen aus Afrika". Sie bekräftigt, dass zwischen der SPD und Europa "kein Blatt Papier geht", kritisiert Europa aber als "neoliberales Projekt" mit einer "großen Gerechtigkeitslücke". Geld, Waren, Dienstleistungen und Menschen dürften sich frei bewegen, dass dazu führe, dass bulgarische Lkw-Fahrer von deutschen Speditionen angeheuert werden und für zwei Euro Stundenlohn arbeiteten und wochenlang in ihren Lastwagen schlafen würden. "Nicht das Projekt ist schlecht, sondern die Ausführung", rief Noichl laut aus. "Europa ist eine Riesenbaustelle." Dafür gibt es Beifall. Die SPD wolle, dass es allen besser gehe. Dann nimmt sie verbal noch eine Anleihe bei der Linken: "Wir kämpfen für internationale Solidarität" oder "der ungezügelte Kapitalismus endet erst dann, wenn einer alles hat". Um sich dann gleich wieder zurückzunehmen: "Die SPD will Balkongeländer sein."

"In Europa wächst ein Krebs", erklärt Noichl, "die Konzentration". Gemeint sind die Vermögen und alles andere. Sie sitzt im Agrarausschuss des EU-Parlaments und weiß, dass 2,7 Prozent der Landwirte in der EU 50 Prozent der Agrarfläche besitzen. "Gelb-Schwarz, die in 20 Ländern regieren, verteilt von unten nach oben", kritisiert Noichl heftig. Sie spricht vom Schutz des Planeten und fordert dafür Abrüstung der atomaren Bedrohung. Am Ende hat die SPD-Politikerin so viele Politikbereiche bedient, dass sich die Zuhörer erst einmal sortieren müssen. Bei den Publikumsfragen geht es dann um Milliarden-Steuerbetrug mit Cum-Ex-Geschäften, um die CO2-Steuer oder um Fluchtursachen. Hier hat Noichl eine klare Haltung: "Die Wirtschafts- und Handelspolitik der EU nutzt Afrika aus."

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Quelle:
SZ vom 21.05.2019
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