Süddeutsche Zeitung

Deutsch-deutsche Wiedervereinigung:Uniformwechsel um Mitternacht

Der lange Weg von Fürstenwalde nach Fürstenfeldbruck: Als 1989 die Mauer fällt, kommen NVA-Soldat Uwe Lenke viele Gewissheiten abhanden. Fast ein Jahr später muss er sich dann auch noch mitten im Dienst umziehen

Von Stefan Salger

Als die Mauer vor genau 30 Jahren, am 9. November 1989, fällt, scheint für Uwe Lenke die Welt aus den Fugen zu geraten. Der damals 25-Jährige ist Soldat der Nationalen Volksarmee (NVA). Er hat gelernt, dass die realsozialistische DDR gut und die kapitalistisch-imperialistische BRD schlecht ist. Er hat gelernt, dass Befehle zu befolgen sind: Im Falle eines Angriffs des Klassenfeinds hätte Lenke, so wie er das gelernt hat, zur Waffe gegriffen. Die Karriere als Berufssoldat, die er in Fürstenwalde begann, hat er nun in Fürstenfeldbruck beendet.

Ein Foto aus jener Zeit zeigt einen milchgesichtigen Stabsfeldwebel, der im blassblauen Hemd und in einer zwei Nummern zu großen Hose hinter Schaltpulten einer Flugabwehranlage posiert. Heute haben sich viele Falten ins braungebrannte Gesicht unter der kurzen Bürstenfrisur eingegraben. Lenke hat die Seiten gewechselt. Als "Diener zweier Armeen" hat ihn ein Kamerad in einem Zeitungsartikel mal bezeichnet. Lenke verschlug es irgendwann auf den Fliegerhorst Fürstenfeldbruck, wo er später als Informationsmeister und in den letzten Monaten vor seiner Pensionierung als Fachlehrer für Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt war. Ganz locker sitzt er in seiner Lederjacke in der SZ-Redaktion, um kurz vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls auf die Wendejahre zurückzublicken. Er hat die Uniform der Volksarmee gegen die der Bundeswehr getauscht - und diese vor ein paar Wochen nebst den Abzeichen des Oberstabsfeldwebels (der höchste Unteroffiziersrang) mit 54 Jahren an den Haken gehängt. Aus dem Schrank wird er sie künftig nur noch zu freiwilligen Wehrübungen geholt. So wie nächsten Mai, wenn es zur Internationalen Luftfahrtausstellung nach Berlin geht.

Lenke bleibt locker und lacht viel. Vielleicht auch deshalb, weil er sich in den Räumen der Fürstenfeldbrucker SZ gut auskennt: Er war 2014 der erste einer ganzen Reihe angehender "Informationsmeister" der Offizierschule, die hier ein Pressepraktikum absolvierten - ausgerechnet in einem Kreis von Journalisten, die früher mehrheitlich Zivildienst geleistet haben.

Geboren wird Lenke im thüringischen Eisenberg, auf halber Strecke zwischen Erfurt und Chemnitz. Dort gibt es eine Kaserne der Nationalen Volksarmee und der Volkspolizei. 1989 gehen couragierte Bürger jeden Mittwoch auf die Straße. Lenke, der nach der Schule eine Ausbildung zum Regeltechniker absolviert hat, gehört da schon fünf Jahre der NVA an, hat sich für weitere fünf Jahre als Berufsunteroffizier verpflichtet. In der Schule ist ihm eingetrichtert worden, wer gut und wer böse ist, wer Schuld ist am Kalten Krieg und warum die Verteidigung des Vaterlands die Pflicht jedes aufrechten Bürgers ist. Als diese Gewissheiten zu bröckeln beginnen, als die Durchhalteparolen des allmächtigen Genossen Honecker, des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei, verhallen, da schiebt Lenke Dienst im zentralen Gefechtsstand von Fürstenwalde.

Die Gewissheiten kommen ihm nach dem Fall der Mauer Woche für Woche mehr abhanden, viele Soldaten der NVA fühlen sich im Stich gelassen. Nach einer schier unendlichen Hängepartie kommt dann der 3. Oktober 1990. Lenke erinnert sich noch gut an den Tag - oder besser an die Nacht vor dem Tag. Er schiebt Bereitschaftsdienst im "Fuchsbau" bei Fürstenwalde, der mächtigen Bunkeranlage mit meterdicken Wänden aus Stahlbeton. Es ist der zentrale Gefechtsstand der DDR-Luftstreitkräfte. Wenn die Pershing-Raketen oder die B-52-Bomber der Nato im Anflug wären, dann würde hier Alarm ausgelöst. Lenke und einige Kameraden kümmern sich um die Wartung der Geräte.

Um eine Minute vor zwölf gibt es noch die DDR und die BRD. 60 Sekunden später nicht mehr. Da gibt es, zumindest offiziell, nur noch einen deutschen Staat. Den jungen Soldaten der Volksarmee trifft das natürlich nicht mehr unvorbereitet. Und doch ist es "ein komisches Gefühl", als er während der 24-Stunden-Schicht die NVA-Uniform aus- und die Uniform des einstigen Klassenfeinds anzieht. Irgendwie fühlt es sich an, als wechsle man einfach so die Fronten, als mache man einfach so "rüber". Die gefühlte "Degradierung" aus formalen Gründen vom Stabsfeldwebel der NVA zum Hauptfeldwebel der Bundeswehr passt da ins Bild.

Aber Lenke ist noch jung. Das Leben liegt vor ihm. 1990 wird sein Sohn geboren. Die Zeichen stehen auf Neuanfang. Und dass alles friedlich abläuft und der Eiserne Vorhang in der Mottenkiste der Geschichte zu versinken scheint, erfüllt ihn durchaus mit Zufriedenheit. Ein Jahr nach der Wiedervereinigung, als Lenke an einer Technikerfortbildung teilnimmt, merkt er, dass trotz der salbungsvollen Worte ein Schatten über der Wiedervereinigung liegt und man wohl doch nicht so ganz auf Augenhöhe ist mit den neuen Weggefährten. Manch langgedienter Kamerad der Bundeswehr macht kein Geheimnis aus seiner Überzeugung, die "Wessis" seien den "Ossis" überlegen. Einer weigert sich demonstrativ, den Erhalt von Bettwäsche aus NVA-Beständen zu quittieren.

Als der Fuchsbau bei Fürstenwalde dicht gemacht wird, kommt Lenke 1994 nach Fürstenfeldbruck. "Ich kannte Bayern aus dem Urlaub, da wollte ich unbedingt hin", sagt er. Schnell findet er auch außerhalb des Fliegerhorsts Anschluss, spielt im Sturm der Altherrenfußballer des SV Puch, engagiert sich als Trainer. Es folgen zwei mehrjährige Aufenthalte im texanischen El Paso, drei Jahre in Erding, zwei in Penzing - bis dort 2017 das Lufttransportgeschwader 61 aufgelöst wird.

Zum 1. Oktober 2019, drei Tage vor dem Tag der Deutschen Einheit, ist für Lenke Zapfenstreich. Als pensionierter Oberstabsfeldwebel a.D. hat er Zeit, die von ihm promotete Bavarian-Texas-Band auf Reisen in die USA oder nach Australien zu begleiten. Auch dort wird er immer wieder gefragt, wie das denn gewesen sei damals, als die ganze Welt gebannt nach Berlin blickte, wo sich die Menschen unter einer gemeinsamen Fahne in Feierlaune in die Arme fielen. Es war eine Zäsur in Lenkes deutsch-deutscher Berufsbiografie. In NVA-Uniform war er damals zur Arbeit gefahren und als Bundeswehrsoldat heimgekehrt.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2019
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