Der Herzschlag der Jugend:Ach, Alice!

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500 Zuhörer reisen in der Germeringer Stadthalle in eine Zeit, in der die Menschen Schlaghosen tragen, sich im Kornfeld betten und VW-Käfer fahren. Sie feiern ein Wiedersehen mit dem Idol Chris Norman, dem einstigen Frontmann der Popband Smokie.

Von Stefan Salger

Die Fans sind gemeinsam mit Chris Norman in die Jahre gekommen. Die Sehnsucht aber, die sie seit Jahrzehnten mit dem Popstar verbindet, ist frisch geblieben wie am ersten Tag. (Foto: unknown)

Um 20 Minuten vor neun ist es so weit. Alice geht. Sie müsse wohl ihre Gründe haben, vermutet Chris. Und dass Alice geht, ist ganz sicher einer der Gründe, warum auch ich mich an diesem Abend von einer Welle der 500 Gleichgesinnten in die Stadthalle Germering tragen lasse. Die Sache mit Alice ist komplizierter, als es die schlichten Reime vermuten lassen. Sie zieht aus. Es ist ein Prozess, der sich bereits mehr als fast 40 Jahren hinzieht und dessen Ende nicht absehbar ist. Der Typ mit der blonden Vokuhila-Frisur vorne an der Bühne scheint einfach nicht darüber hinwegzukommen. Mit seiner akustischen Gitarre erzählt er die Geschichte von der nie in Worte gefassten Liebe, die nie in Erfüllung gehen durfte.

Die dichte Menschentraube vor der Bühne belegt, dass vor allem viele Frauen, die Handys und Fotoapparate gezückt haben, dieses Schicksal teilen. Ihre heimliche Liebe hat die Jahre seit damals, 1976, als "Living next Door to Alice" erstmals die Hitparaden stürmte, überraschend unversehrt überstanden. Die Augen liegen tiefer, ein paar Furchen ziehen sich über das Gesicht. Aber Chris Norman, der langjährige Frontmann der Siebzigerjahre-Superband Smokie, ist schlank und wirkt fit. Mit seinen schulterlangen Haaren steht er da, das dunkle Hemd aufgeknöpft und an den Ärmeln hochgekrempelt. An den sentimentalen Liedstellen würgt er den Hals seiner Gitarre noch so wie früher und trifft immer noch den richtigen Ton, wenn er sein Leid in den Saal hinausschreit.

Früher füllte Chris Norman Hallen und ganze Fußballstadien. Heute ist er mit seiner There-and-Back-Tour in den fast restlos gefüllten Orlandosaal in Germering gekommen. Für die Besucher spielt das keine Rolle. Gut, in Ohnmacht fällt keiner mehr. Aber die Augen glänzen, und vor allem die weiblichen Fans hängen an den Lippen des Briten Christopher Ward Norman, der von 1975 bis 1986 Sänger und Gitarrist der Pop-Band Smokie war. Elf Jahre, die prägend waren für eine ganze Generation. In denen Norman Stammgast in der Hitparade war und sich die jungen Mädchen die am Bildschirm eingeblendete Autogrammadresse abschrieben: Von Hünefeldstraße 2, 5000 Köln 30. Mit "If you think you know how to love me" fing es an, der Song schaffte es 1975 bis auf Platz acht der deutschen Hitparade. Auf der Rückseite der Langspielplatte "Die größten Erfolge einer Supergruppe - Smokie mit dem Leadsänger Chris Norman" sind von 1975 bis 1980 16 Hits aufgelistet. Drei davon schafften es bis ganz an die Spitze: "Living next Door to Alice (1976), Lay back in the Arms of Someone" (1977) und Mexican Girl" (1978).

Die Vorderseite der analogen und auf dem Plattenspieler wunderbar knackenden und rauschenden LP, die viele Jahre ganz hinten im Plattenregal überdauert hat, zeigt einen blond gelockten und gertenschlanken Chris Norman in weißem Hemd und weißer Hose. Im Hintergrund sind Bassist Terry Uttley, Gitarrist Alan Silson und Schlagzeuger Pete Spencer zu sehen. Anfang der Achtzigerjahre habe ich 14,90 Mark für die Scheibe gezahlt, ziemlich viel für einen Jugendlichen mit knappem Taschengeld. Aber irgendwann hatte ich es einfach satt, bei den Schlagern der Woche immer aufs richtige Lied zu warten und im richtigen Moment die Aufnahmetaste des Kassettenrekorders zu drücken - um mich danach regelmäßig darüber ärgern zu müssen, dass es ein paar Wortfetzen des zu früh reinquatschenden Radiomoderators mit aufs Band geschafft hatten. Nicht, dass ich ein wirklicher Smokie-Fan war. Aber manchmal muss man eben einen eigenen Weg finden zwischen den kleinkarierten Bay-City-Roller-Langspielplatten der älteren Schwester und den harten Queen-Scheiben des älteren Bruders. Und der Weg konnte ganz gewiss nicht Rex Gildo, Udo Jürgens oder Jürgen Drews sein. Deren Musik schallte an lauen Sommerabenden vom Dorffest über die Felder bis in das Jugendzimmer im Dachauer Hinterland. Griechischer Wein, nein danke. Smokie dagegen, das klang nicht nach Kleinberghofen. Das klang nach großer weiter Welt. Hätten meine Englisch-Kenntnisse gereicht, um die Liedtexte zu übersetzen, dann wäre mir klar geworden, dass diese ebenso schmalzig sind und damit auch nicht über das Niveau von "Ein Bett im Kornfeld" hinausgehen. Manchmal bewahrt einem Unwissenheit eine schöne Illusion.

Derer bedurfte es gerade in den Siebzigerjahren. Als Chris Norman und Smokie 1977 "Needles and Pins" veröffentlichen, da lastet der Deutsche Herbst bleischwer auf der Republik. Die Terroristen der RAF entführen und ermorden Hanns Martin Schleyer, entführen das Lufthansa-Flugzeug Landshut und bereiten ein Attentat auf Franz Josef Strauß vor, der ein Jahr später Bayerischer Ministerpräsident wird. Elvis Presley stirbt in Memphis, Jimmy Carter ist bereits im Januar als Präsident der USA vereidigt worden. Die erste Punkwelle schwappt über Großbritannien. Und doch steht alles unter dem Eindruck des andauernden Kalten Kriegs. Noch lässt nichts auf den von den Scorpions später besungenen "Wind of Change" und damit die deutsche Wiedervereinigung schließen. Es ist aber auch die Zeit des VW Käfer, der Langhaarfrisuren, der bunten Schlaghosen, der einsetzenden Emanzipation der Frauen und Fernsehserien wie Bonanza, Lassie oder Flipper.

Geschichte aus dem vergangenen Jahrhundert. Aber Chris Norman steht immer noch auf der Bühne. So wie die unverwüstliche Debbie Harry von Blondie ("Sunday Girl", "Heart of Glass", "Atomic"), einem weiteren Idol aus jenen Jahren, das stramm auf die 70 zugeht. Chris Norman ist jetzt 63. Seine Fans sind immer auf Augenhöhe geblieben. Auch sie sind älter geworden. Aber was bedeutet Alter, was Zeit?

"Twenty-four years just waitin' for a chance. To tell her how I feel and maybe get a second glance. Now I gotta get used to not living next door to Alice." Was sind 24 Jahre? Was sind weitere fast 40 Jahre, die ins Land gezogen sind? Die Zeit ist zu einer bedeutungslosen Größe geschrumpft. Ebenso wie der Raum. "Eh, where are we here?", fragt ein gut gelaunter Norman nach den ersten paar Liedern und erntet dafür Gelächter. In Germering! Über der Bühne hängen überdimensionierte Wohnzimmer-Lampenschirme, links steht die Attrappe eines mit alten Schmökern gefüllten Bücherregals, rechts hängt ein überdimensionales, goldgerahmtes Konterfei von Chris Norman mit dem Titel des aktuellen Albums: There and Back. Nach zehn Jahren ist der Brite zurück in Germering. Mitgebracht hat er Sängerin Pam MacBeth, Keyboarderin Martina Walbeck, Bassist Axel Kowollik, Schlagzeuger Dorino Goldbrunner und Gitarrist Geoff Carline, vor allem aber all die alten Hits wie "Oh, Carol" oder auch "Midnight Lady", ein Stück, das ihm einst der deutsche Schlagerbarde Dieter Bohlen geschrieben hat und das 1986 als Titelmusik der Schimanski-Tatortfolge "Der Tausch" bekannt wurde.

Farbig flackernde Scheinwerferlanzen stechen in den Pulk, der sich schnell vorne an der Bühne gebildet hat. Oben Norman, unten die Zeitreisenden, wohl an die 80 Prozent Frauen. Dahinter sitzen die Zuhörer. Sehen nichts, beschweren sich aber auch nicht. In der dritten Reihe steht ein Mann im dunklen Anzug mit weißem Haar und sorgsam gezogenem Seitenscheitel, wippt leicht mit den Hüften und sieht, wie die riesigen Bassboxen, aus denen "Be my Baby" dröhnt, zwei Frauen ein paar Meter weiter nach hinten blasen. Ganz hinten, in der letzten Reihe, direkt neben dem Mischpult hält es auch Jennifer Payne längst nicht mehr auf dem Stuhl. Die 64-Jährige wippt, klatscht, singt mit. Es ist ihr zehntes Konzert von Chris Norman. Seit sieben Jahren lebt die Britin in Gauting. "Ich kenne Chris seit seinen künstlerischen Anfängen", sagt sie. Fast alle Lieder kann sie auswendig mitsingen, es ist eine Beziehung ohne Verfallsdatum. Chris Norman hat Jennifer Payne in ihren Jugendjahren begleitet. Ihre damaligen Freunde mussten mit der Konkurrenz aus der Jukebox leben.

Anna Winkler aus Puchheim war 13 Jahre alt, als sie Chris Norman erstmals live hörte - 1979 in der Ulmer Donauhalle. Da hing der Bravo-Starschnitt längst in ihrem Zimmer. Auch heute noch bekommt sie Gänsehaut, wenn sie die rauchige Stimme hört. "Er sieht immer noch gut aus", sagt Winkler, die erst ein paar Tage zuvor durch eine Ankündigung in der SZ auf den bevorstehenden Auftritt ihres Jugendidols aufmerksam geworden war und die Gelegenheit sofort beim Schopfe packte. Ihre Tochter Laura , die heute genau so alt ist wie Anna Winkler beim ersten Livekonzert, ist eher aus Solidarität mitgekommen, während sich ihr Mann letztlich doch fürs Champions-League-Spiel Bayern gegen London entschied. So ganz ist es nicht der Musikgeschmack von Laura, aber es sei letztlich " ganz okay" gewesen, auch wenn ihr Robbie Williams besser gefallen hätte.

Die Zeiten ändern sich also doch. " I left the good times way behind" singt Norman. Aber auch: "I need your love. Baby I miss you!" Und in solchen Momenten sind gerade die Frauen froh, dass Alice nie die Tür geöffnet hat. So kann Chris Norman ihre unerfüllte Liebe bleiben. Und sie dürfen sich als "My Mexican Girl" angesprochen fühlen und mitschmachten: "Hasta la Vista". Bis zum nächsten Wiedersehen.

© SZ vom 14.03.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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