Bühne:Psychologie der Rache

NBB

Vielgestaltig: Elektra ist nicht nur eine Person. Manchmal ist sie auch zwei oder drei Personen, dann gleicht sie den Moiren, den Schicksalsgöttinnen, die den getöteten Vater rächen sollen.

(Foto: Günther Reger)

Philipp Jescheck zeigt an der Neuen Bühne eine eindringliche Elektra

Von Valentina Finger, Fürstenfeldbruck

Im Jahr 1913 führte Carl Gustav Jung den Elektrakomplex in die Psychologie ein. Als Gegenstück zu Sigmund Freuds Ödipuskomplex beschreibt er die Bindung der Tochter zum Vater bei gleichzeitiger Rivalität zur Mutter. Freud tat die Theorie als unhaltbar ab. Einen namensgebenden Präzedenzfall konnte Jung immerhin vorweisen: Um den Mord an ihrem Vater zu rächen, will die Königstochter Elektra ihre Mutter tot sehen. Ihre Rache steht im Fokus der Tragödie "Elektra" von Hugo von Hofmannsthal, die unter der Regie von Philipp Jescheck an der Neuen Bühne Bruck gezeigt wird.

Als "Elektra" 1904 veröffentlicht wurde, hatte die Psychoanalyse ihre Hochzeit. Es ist kein Wunder, dass sich das Drama einer entsprechenden Interpretation geradezu aufdrängt. Jescheck hat das psychologische Potenzial des Stoffs mit viel Raffinesse weitergesponnen. Es ist der Kontrast aus dem feinsinnigen Umgang mit dem Text und der brutalen Körperlichkeit der Umsetzung, der die Inszenierung zu einem verstörend fesselnden Spektakel macht. Die Charaktere sind auf vier reduziert, die von Claudia Dzsida, Marion Nitsch, Rilana Nitsch und Valentin Stückl gespielt werden. Diese Reduktion wird bei Jescheck zum Ausgangspunkt für eine ständige Vervielfältigung der Figuren. Elektra gibt es je nach Szene zwei oder gar drei Mal. Die Darstellerinnen spielen sie abwechselnd, gleichzeitig oder im Zwiegespräch mit sich selbst. Sprechen sie im Chor, wirken sie wie die drei Moiren, die Schicksalsgöttinnen, die sich in der düsteren Gruft-Atmosphäre der Bühne daran machen, die Lebensfäden des Mörderpaars Klytämnestra und Aigisth zu durchtrennen.

Elektra ist hier nicht nur die hysterische Rächerin. Drei verschieden tapezierte Wände illustrieren ihre Vielseitigkeit. An einer Wand hängen Hochzeitsbilder der Eltern. Sie mögen für die Vergangenheit stehen, die die Bluttat der Mutter besudelt hat. Eine zweite zeigt Kinderzeichnungen: Prinz und Prinzessin oder Vater, Mutter, Kind. An eine solche Zukunft glaubt Elektra nicht mehr. Nur ihre Schwester Chrysothemis, gespielt von Dzsida, hält noch an der Hoffnung auf eigenes Eheglück fest. Elektra hingegen ist an die dritte Wand gebannt. Die wütenden Krakeleien darauf packen ihr Inneres in Worte: "Ich hasse dich", steht dort, und mehrmals "Rache".

Mehrdimensionalität ist die Triebkraft der Inszenierung, nicht nur in der Charakterzeichnung, auch in deren Visualisierung. Videos ergänzen oder unterbrechen die Reden von Chrysothemis oder Klytämnestra. Das Besondere an Jeschecks Herangehensweise ist, dass die psychologische Tiefe des Stücks mit allen Sinnen greifbar gemacht wird. Der physische Kontakt dominiert das Zusammenspiel, stets ist da eine Hand die drückt, schubst oder schlägt. Es ist wie eine Geisterbahn mit lebenden Schreckgestalten, eine traurige Horrorfahrt in tiefste Gefühlswelten, die Jescheck und seine Schauspieler aus dem antiken Stoff machen. Um sich zu amüsieren, schaut man sich diese Elektra nicht an. Um eindrückliche Theaterarbeit zu sehen, sollte man es dafür unbedingt tun.

Die nächste Aufführung von Elektra an der Neuen Bühne Bruck ist am Sonntag, 8. Oktober, um 19 Uhr. Karten unter 08141/18589.

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