Bildung und Pandemie im Landkreis:Die Angst der Eltern vor dem Lockdown

Für die Regelschulen sind Wechselunterricht und Homeschooling schon eine schwere Bürde. Für Fördereinrichtungen wie die Cäcilienschule aber sind sie noch viel mehr: eine Katastrophe. Lehrer und Angehörige fühlen sich von der Politik allzu oft übergangen

Von Amelie Sittenauer, Fürstenfeldbruck

Alina weiß nicht, was Corona ist. Die 13-Jährige kennt die Gründe nicht, weshalb ihr Fahrdienst sie morgens nicht mehr abholt, warum sie ihre Betreuer nicht mehr sieht und nachmittags nicht mehr in die heilpädagogische Tagesstätte gehen kann. Alina ist Autistin und besucht die Cäcilienschule, das Förderzentrum für geistige Entwicklung in Fürstenfeldbruck. Als im März die Corona-Pandemie ausbricht, bricht für die Teenagerin vor allem ihre Welt zusammen. Ihr Alltag und ihre Routine, strukturiert durch das Schulleben, kommen ihr abhanden. Für Alina, ein aufgewecktes Kind, das gerne Musik hört, tanzt und mit ihrer Familie Taekwondo übt, löst das erzwungene Daheimbleiben eine ständige Reizüberflutung aus. Und während für Schülerinnen und Schüler in Regelschulen versucht wird, durch digitale Angebote das Recht auf Bildung zu gewährleisten, ist dies für Kinder in Förderzentren wie der Cäcilienschule nur schwer umsetzbar.

Was also bedeutet Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe inmitten einer Pandemie für Schülerinnen und Schüler wie Alina, die ganz besonders auf Strukturen und soziale Interaktion angewiesen sind? Die Cäcilienschule und die Eltern der Kinder fühlen sich in der Krise vergessen.

Im Frühjahr fährt das Land herunter, Schulen stellen auf Distanzlernen um. Die Förderschule in dem Brucker Wohngebiet versucht das auch für ihre 151 Schülerinnen und Schüler vom Grund- bis ins Berufsschulalter. "Wir bilden die Klassen nicht nach Leistungsfähigkeit der Schüler, sondern nach den entsprechenden Schulbesuchsjahren", erklärt der stellvertretende Schulleiter Johann Klehmet. "Das heißt, unsere Klassen sind viel heterogener und komplexer als an einer Regelschule", ergänzt Schulleiterin Johanna Lohner-Wörsching. Schulbücher gibt es ohnehin nicht, die Lehrkräfte erstellen Arbeitsblätter, individuell auf die Bedürfnisse jedes Kindes zugeschnitten. Sonderpädagogen verschicken also individuelle Materialien, rufen ihre Schüler täglich an und erstellen Angebote auf digitalen Lern-Apps. Um die ganzheitliche Lernansprache der Cäcilienschule - das Lernen mit allen Sinnen - nach Hause zu transportieren, filmen einige Lehrkräfte sogar das schulische Gartenprojekt. Darin beschreiben sie den Duft der Erde und die Textur der Blätter, die in den Frühlingswochen gewachsen sind.

Das, was die Kinder mit einer Lernbehinderung, Trisomie 21, Autismus oder Epilepsie, an der Cäcilienschule lernen, lässt sich jedoch nicht so leicht nach Hause transferieren. Manche Kinder, wie auch Alina, sprechen freilich nicht oder nur einzelne Wörter, ein telefonischer Austausch mit den Sonderpädagogen kommt für sie nicht in Frage. Auch ist es nicht für jeden möglich, das digitale Lernangebot anzunehmen, zu bearbeiten - überhaupt zu verstehen. Die ausgebildeten Lehrkräfte fehlen zu Hause. "Wir sind keine Sonderpädagogen. Wir können das einfach nicht vermitteln, was die Kinder in der Schule lernen", erzählt Alinas Mutter Mirja Olbrich. Was den Kindern beigebracht werde, sei ja oft auch das soziale Interagieren. Meist hätten sie wenig Außenkontakte, sind nicht in Sportvereinen oder im Musikunterricht - die Schule und die heilpädagogische Tagesstätte sind ihr soziales Zentrum. Und andere Kinder, Sonderpädagogen, Therapeutinnen und Betreuer sind wichtige Bezugspersonen für die Heranwachsenden.

Bildung und Pandemie im Landkreis: Johanna Lohner-Wörsching und ihr Stellvertreter Johann Klehmet leiten die Cäcilienschule. FürKinder und Jugendliche ist der Bezug zu den vertrauten Betreuern und Schulkameraden sehr wichtig.

Johanna Lohner-Wörsching und ihr Stellvertreter Johann Klehmet leiten die Cäcilienschule. FürKinder und Jugendliche ist der Bezug zu den vertrauten Betreuern und Schulkameraden sehr wichtig.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Die langjährige Erfahrung in den Förderschulen zeigt, dass Kinder mit Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung noch mehr als Kinder an Regelschulen auf stabile Strukturen und gleichbleibende Gewohnheiten angewiesen sind, um sich in ihrer Umgebung sicher zu fühlen. Die Ausnahmesituation durch Corona und das plötzliche zu Hause bleiben versetzt viele stattdessen in einen Zustand der völligen Destabilisierung. "Ich musste meine Tochter erst einmal wieder von dieser Unsicherheit in eine Sicherheit bringen", erzählt Olbrich und fügt hinzu: "Es war wirklich sehr schwierig für alle. Alina hatte teilweise Überreizungen, die über Stunden gingen, das musste zu Hause natürlich alles psychisch aufgefangen werden". Durch ihre Rollen als Elternbeiratsvorsitzende kennen Olbrich und ihr Stellvertreter Markus Carobbio auch die Berichte der anderen Eltern. Über Monate übernehmen diese ohne Pause die vollständige Pflege, Betreuung und Beschulung ihrer Kinder. Selbst an Homeoffice ist bei den meisten da nicht zu denken. Fast alle beobachten während des Lockdowns eine negative Entwicklung bei ihren Kindern. Diese ziehen sich sozial zurück, hören wieder auf zu sprechen, schlafen die Nächte nicht mehr durch oder nässen sich wieder ein. Bei den Familien ist die emotionale und psychische Belastung deshalb riesengroß. Gleichzeitig fallen Familienentlastende Dienste, wie jener der Caritas, wegen Corona weg.

Währenddessen arbeitet die Schulleitung im Frühjahr auf Hochdruck an einem Hygienekonzept. "Wir wissen natürlich um die besondere Verletzbarkeit unseres Klientels, da will man Infektionen auf jeden Fall verhindern", betont Johann Klehmet. Von der Trägerorganisation, der Stiftung Kinderhilfe, werden FFP2-Masken und eine Menge Desinfektionsmittel bereitgestellt. Nach den Pfingstferien kehren dann die ersten Jugendlichen zum Präsenzunterricht zurück - unter strengen Hygienevorschriften und im wochenweisen Wechsel. 20 Kinder und Jugendliche können aufgrund von Atemwegserkrankungen, Autismus oder aus psychischen Gründen keine Maske tragen. Wie viele Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung toleriert auch Alina die Maske in ihrem Gesicht nicht. Doch nicht nur im eigenen Gesicht wird die Mund-Nasen-Bedeckung zum Problem. Die Masken verdecken zudem die Gesichter der Pädagoginnen und Betreuer. "Die Kinder hatten teilweise total Angst vor ihren Eltern und ihren Lehrern", erzählt die Elternbeiratsvorsitzende. Und obwohl sie endlich wieder in die Schule gehen können: Jede zweite Woche Pause ist für viele nach wie vor destabilisierend. Diese Beobachtung macht auch Schulleiterin Lohner-Wörsching: "Für die Kinder war der wochenweise Wechsel unglaublich schlimm, weil sie manchmal Tage brauchen, um sich an das neue Umfeld zu gewöhnen". Trotzdem sei sie enorm stolz auf ihre Schüler, wie gut sie die Corona-Regeln einhielten.

Die Abwägungen zwischen Infektionsschutz und sozialer und psychischer Gesundheit der Kinder führen auch zwischen Schule und Elternbeirat zu heftigen Diskussionen. Die einen wollen mehr Vorsicht vor Corona, die anderen, darunter auch Carobbio, wünschen sich mehr Struktur für die Kinder: "Wir haben argumentiert, dass es mehr Sinn machen würde, die Kinder einfach in ihrem Rhythmus zu lassen, da sie durch die wenigen Kontakte sowieso ein geringeres Infektionsrisiko haben. Aber da sind wir leider an eine Wand aus Infektionsschutzvorschriften gelaufen." Einen Corona-Ausbruch hat es an der Cäcilienschule bis heute nicht gegeben. Einen Plan, falls das Virus in die Schule kommen sollte, gibt es auch nicht. Förderzentren sind nicht wie die Grund- und Gesamtschulen dem Schulamt im Landkreis unterstellt, sondern unterstehen direkt der Regierung von Oberbayern. Die Vorgaben von oben bekomme man aber meistens sehr spät oder erfahre es gleich aus der Öffentlichkeit, erzählt die Schulleiterin. Vorlaufzeiten gebe es so gut wie keine, meint sie und seufzt. "Es ist sehr anstrengend. Wir planen eigentlich nur noch von Hygieneplan zu Hygieneplan". Dass hinter einem Förderzentrum eine komplexe Struktur mit Fahrdiensten, Schulbegleiterinnen und Nachmittagsbetreuung steht, scheine von politischer Seite nicht berücksichtigt zu werden.

Bildung und Pandemie im Landkreis: Die Schulband tritt im Juli 2019 bei der 50-Jahr-Feier der Stiftung Kinderhilfe auf.

Die Schulband tritt im Juli 2019 bei der 50-Jahr-Feier der Stiftung Kinderhilfe auf.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Zweimal hat sich die Schulleitung mittlerweile mit einem Hilfegesuch an das Gesundheitsamt gewandt. Man wollte das Hygienekonzept vor Ort überprüfen lassen, bevor nach den Sommerferien alle Schülerinnen und Schüler wieder ohne Wechsel an die Schule zurückkamen. Vom Landratsamt hören sie jedoch lange nichts. "Das fanden wir schon sehr enttäuschend, man fühlt sich sehr alleingelassen", so Klehmet. Auf Nachfrage der SZ beim Landratsamt Fürstenfeldbruck heißt es, ein Schreiben der Cäcilienschule sei nicht auffindbar. Einen Tag später taucht das Schreiben aus dem Oktober dann aber doch noch auf. Die Überprüfung einzelner Einrichtungen oder Betriebe durch das Gesundheitsamt sei nicht vorgesehen und nicht zu bewältigen, heißt es. Eine Sprecherin verweist auf die allgemeinen Hygienevorschriften der bayerischen Staatsregierung und der Regierung von Oberbayern. Die Cäcilienschule fühlt sich alleingelassen in den Wirren aus Zuständigkeiten. Und die lokalen Behörden fühlen sich nicht verantwortlich.

Für die Eltern bestätigt der Umgang mit den Förderschulen in der Corona-Pandemie das, was sie auch vor dem Virus schon wussten: die Förderschulen sind das Stiefkind der bayerischen Schulpolitik. "Die öffentliche Hand hat es sich noch nie zur Aufgabe gemacht, sich überhaupt um Kinder mit Förderbedarf zu kümmern. Sondern das ist hübsch delegiert an private Träger", erklärt Carobbio. Die Förderschulen würden zwar finanziell vom Staat unterstützt, der politische Auftrag sei aber nie übernommen worden. Dem bayerischen Landesamt für Statistik zufolge wurden im Jahr 2018 188 der insgesamt 350 Förderzentren von privaten Trägern geführt. "Ich habe einfach nicht das Gefühl, dass in den politischen Gremien jemand sitzt, der sich denkt: Ich kenn' mich mit Förderschulen aus. Ich weiß, was sie brauchen. Ich mache sie zum Thema", meint Carobbio, und Olbrich pflichtet ihm bei: "Man bettelt so darum, gesehen zu werden, gehört zu werden, aber die wollen da nicht wirklich hinschauen, so ist dieses Gefühl."

Rasant steigende Infektionszahlen im Landkreis wecken bei Eltern und Kindern jetzt die Angst, dass die Cäcilienschule wieder schließen muss. "Die Panik davor ist einfach riesig, was das allein psychisch bedeuten würde", beschreibt Olbrich. Anfang November wandte sich der Elternbeirat deshalb mit einem Brief an Holger Kiesel, den Beauftragten für Menschen mit Behinderung in Bayern. Als Kultusminister Michael Piazolo dann seine Hotspot-Strategie für die Schulen vorstellte, horchten die Eltern bei einem Wort auf: Förderschulen. Insbesondere Grund- und Förderschulen sollten geöffnet bleiben, weil der persönliche Kontakt und die Präsenz dort besonders wichtig seien, so Piazolo. "Schon absurd, dass ein Wort so etwas Tolles sein kann", sagt Alinas Mutter Mirja Olbrich.

Nachdem Markus Söder in der Pressekonferenz zum Corona-Katastrophenfall am Sonntag nun Förderschulen extra erwähnt hatte, können Eltern wie Alinas Mutter hoffen, dass die Förderzentren tatsächlich geöffnet bleiben. Dass Alina und die anderen Kinder so wenigstens etwas Kontinuität und Sicherheit zurückerlangen. Und dass positive Prozesse nicht unterbrochen werden. Seit Kurzem geht Alina nämlich ohne individuelle Schulbegleitung in die Cäcilienschule.

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