Bildung statt Bestrafung:Zum Lesen verdonnert

Lesezeit: 2 min

Als Alternative zu Sozialarbeit oder Geldstrafen bietet ein Projekt jugendlichen Straftätern Lektüre unter pädagoischer Begleitung an. Die Erfolge sind verblüffend, auch weil die Texte die Probleme der Betroffenen thematisieren.

Von Ariane Lindenbach

Kann Lesen eine Strafe sein? Was für leidenschaftliche Leser schwer nachzuvollziehen ist, hat bei der im digitalen Zeitalter aufgewachsenen Generation einen unerwarteten Erfolg. "Kontext", ein Projekt der Hochschule München in Kooperation mit Staatsanwaltschaft und Jugendamt, bietet für jugendliche Straftäter eine Alternative zu gemeinnütziger Arbeit oder Geldauflage. Die "Strafe" kann auch darin bestehen, dass sie - sozialpädagogisch begleitet - ein Buch lesen und sich damit auseinander setzen müssen. Seit Mai 2012 gibt es dieses Projekt für Täter, die noch nicht 21 Jahre alt sind im Landkreis Fürstenfeldbruck wohnen. Die Jugendgerichtshilfe entwickelte Kontext mit, sie berichtet von einem "dramatischen Effekt" im positiven Sinne.

Kontext wurde nach einem Dresdner Vorbild 2012 von Caroline Steindorff-Classen, Professorin für Sozialwissenschaft an der Hochschule München, in Kooperation mit der Staatsanwaltschaft München und den Jugendämtern München und Fürstenfeldbruck entwickelt. Außer in der Stadt und dem Landkreis München ist Fürstenfeldbruck der einzige Landkreis Bayerns, in dem jugendliche Täter auf diese Weise bestraft werden. Stolz sei er, "weil es ein Vorzeigeprojekt ist, das gibt es noch nicht oft in Deutschland". Deshalb freue es ihn besonders, das Leseprojekt in Fürstenfeldbruck zu haben, berichtete kürzlich Werner Mesenzehl-Reinwald von der im Jugendamt Fürstenfeldbruck angesiedelten Jugendgerichtshilfe den Mitgliedern des Jugendhilfeausschusses. Anfangs habe es auch viel Skepsis gegeben, erinnerte er sich. Doch nicht zuletzt durch das Engagement von Jugendrichterin Anna Kappenschneider sei Kontext konzipiert und im Landkreis realisiert worden.

Seit Mai 2012 wurden 61 junge Straftäter im Landkreis zum Lesen verdonnert, die Strafe wurde nicht nur bei Bagatelldelikten verhängt, sondern sogar als Bewährungsauflage. Die anfängliche Skepsis einiger Kritiker, Jugendlichen könnten sich durchmogeln und die Lektüre gar nicht lesen, hat sich Mesenzehl-Reinwald zufolge nicht bewahrheitet. Denn die jungen Menschen werden während der gesamten Dauer ihrer Maßnahme von einem Studenten der Sozialen Arbeit begleitet. Bei einem ersten Gespräch werden die persönliche Situation und die Straftat thematisiert, schließlich die Lektüre aus einem umfangreichen Pool pädagogisch wertvoller Bücher ausgewählt. Die meisten würden die Lektüre nach ihrer eigenen Lebensproblematik aussuchen. Deshalb werden dem Sozialpädagogen zufolge in erster Linie Bücher zum Thema Alkohol- oder Drogensucht gewählt, gefolgt von solchen, die Problematiken innerhalb der Familie behandeln. Da geht es beispielsweise um Gewalt in der Familie, aber auch um Kinder, die auf der Straße leben, oder um psychische Auffälligkeiten. Bei regelmäßigen Treffen der jungen Straftäter mit ihrem Betreuer, deren Umfang in Zusammenhang mit der Schwere der Straftat steht, wird über die Lektüre geredet. Zum Abschluss der Treffen, die bis zu 42 Stunden bei acht Terminen umfassen können, wird das Gelesene aufgearbeitet: als schriftliches Resümee, als Comic oder Lied auf CD.

Seit Beginn des Leseprojekts im Landkreis hat nur ein einziger Teilnehmer vorzeitig abgebrochen. Verglichen mit anderen Ahndungsmöglichkeiten wie Soziale Dienste, einer Betreuungsweisung oder Geldauflage ist das ein enormer Erfolg. Dementsprechend bezifferte Mesenzehl-Reinwald die Erfolgsquote auf fast 100 Prozent. Auch von den Jugendlichen werde Kontext sehr positiv bewertet. Wie Steindorff-Classen den Kreisräten erläuterte, gibt der überwiegende Teil nach dem Leseprojekt an, dass "die Maßnahme durchaus Sinn gemacht hat". Zu ihrer eigenen Überraschung und der der Studenten hätten sich viele der Teilnehmer weit gegenüber ihrem Mentor geöffnet. Oft seien dabei tiefer liegende Problematiken, die aber oft ursächlich für die Straftaten seien, zutage gekommen.

Begonnen wurde Kontext übrigens 2011 als pädagogisch begleitete Lesegruppe in der Jugendarrestanstalt. Auch dort sind die Auswertungen und das Feedback ähnlich erfolgsversprechend wie bei den Straftätern auf freiem Fuß.

© SZ vom 12.08.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: