Behindertengerechter Umbau:"Im Grunde profitieren alle"

Lesezeit: 6 min

Wer Barrieren in der Wohnung vermeiden will und einen behindertengerechten Umbau plant, der bekommt Rat bei der Bayerischen Architektenkammer. Einer der Experten ist Uwe Gutjahr

Interview von Gerhard Eisenkolb, Fürstenfeldbruck

Barrierefreiheit beginnt bei der Planung von Gebäuden. Deshalb bietet die Bayerische Architektenkammer schon seit mehr als 30 Jahren hierzu auch privaten Bauherren kostenfrei Beratung an. Der Münchner Architekt Uwe Gutjahr ist einer der Berater. Er war lange im Krankenhausbau tätig und begleitete Großprojekte als Projektleiter. Gutjahr legt besonderen Wert auf die Funktionalität von Bauten. Ein Paradebeispiel für gelungene barrierefreie Architektur unter Wahrung des Denkmalschutzes ist für ihn die Kuppel des Berliner Reichstags an.

SZ: Die Architektenkammer berät seit mehr als 30 Jahren zum barrierefreien Bauen. Mal ehrlich, wie viel Prozent der Häuser und Wohnungen sind ohne Stufen und Schwellen zu erreichen und damit wirklich barrierefrei?

Uwe Gutjahr: Derzeit unter zwei Prozent. Seit der Novelle der bayerischen Bauordnung 2008/2009 dürfte sich die Anzahl der barrierefreien Wohnungen und Häuser in Bayern allerdings nahezu verdoppelt haben. Dies liegt vor allem daran, dass neue Gebäude mit mehr als zwei Wohneinheiten seitdem barrierefrei zu errichten sind...

... also auf jeden Fall viel zu wenig.

Etwa 13 Millionen Einfamilienhäuser in Deutschland sind so gut wie nicht barrierefrei und lassen sich zudem, wenn überhaupt, nur mit großem Aufwand umbauen. Wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen bis ins hohe Alter in ihren eigenen vier Wänden bleiben möchten, sind große Anstrengungen notwendig.

Viele Häuser lassen sich wohl nicht so umbauen, dass Senioren oder Menschen mit Handicaps dort wohnen können.

Stimmt, mit Neubauten allein werden wir mit der stetig wachsenden Zahl von Senioren nicht zurechtkommen. Dafür ist die Neubauquote insgesamt zu niedrig. Um den demografischen Wandel zu bewältigen, müssen deshalb auch unbedingt die Möglichkeiten der Sanierung des Gebäudebestands einbezogen werden.

Machen Sie und die Kammer dieses Angebot, weil die Versäumnisse zu groß sind?

Nein. Es geht vielmehr um ein Bewusstmachen. Ratsuchende erhalten bei den Beratungsterminen eine kostenfreie Erstberatung zu ihren konkreten Anliegen, ohne dass jedoch konkrete Planungen übernommen werden. Wir möchten mit unserem Angebot ein Bewusstsein dafür wecken, was möglich und als nächster Schritt notwendig ist, um mit oder ohne Einschränkung möglichst lange selbstbestimmt zu leben. Barrierefreiheit geht uns alle an, weil wir alle älter werden. Deshalb nutzen nicht nur Privatpersonen, sondern auch Planer und die öffentliche Hand die Angebote der Beratungsstelle sehr intensiv. Seit mehr als 30 Jahren unterstützt und fördert das Sozialministerium die Beratungsstelle als starker Partner.

Fragen private Bauherren bei den 18 Beratungsstellen erst an, wenn sie gebrechlich werden oder Angehörige krank sind?

Oftmals ja. Viele kommen zu uns, wenn ein Handicap sie oder einen Angehörigen persönlich betrifft oder sogar schon massiv einschränkt. Aber auch hier hat ein Umdenken eingesetzt. Wir stellen aber fest, dass in den letzten ein bis zwei Jahren sich erfreulicherweise immer mehr Menschen auch präventiv beraten lassen.

Bis weit in die Achtzigerjahre hatten viele Wohngebäude an der Eingangstür noch ausgrenzende und für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen schwer zu überwindende Stufen oder Schwellen. Was hat sich seither verändert?

Die Änderungen der Bauordnung 2008/2009 haben beispielsweise zu einem starken Wandel beim Geschosswohnungsbau geführt. Bei Neubauten ist Barrierefreiheit inzwischen ebenso selbstverständlich wie Schall- oder Wärmeschutz. Bedauerlicherweise ist dies für den doch umfangreichen Gebäudebestand noch nicht gewährleistet.

Sind Architekten angehalten, Bauherren auf barrierefreies hinzuweisen?

Nein, nicht zwingend. Bei Barrierefreiheit geht es vor allem um Wohn- und Lebensqualität. Natürlich spielen dabei Gebrechen und Einschränkungen eine Rolle. Aber es geht vor allem um positive Dinge wie Komfort und Behaglichkeit. Wenn man das weiß, erscheinen die Vorzüge von schwellenlosen Übergängen zu Balkonen und Terrassen in einem alltäglichen Licht. Barrierefrei zu bauen, bietet dann in jedem Alter viele Vorteile.

Durch die Schiebetür ins barrierefreie, behindertengerechte Bad - so komfortabel sieht es nach dem Umbau in einer Olchinger Wohnung aus. (Foto: Günther Reger)

Sie wollen also mit der besseren Wohnqualität überzeugen.

Ich spreche mit den meisten Bauherren ja auch nicht über Dampfsperren und Wärmebrücken. Man muss es einfach und nachvollziehbar erläutern. Barrierefreiheit steht dabei in keinster Weise in Widerspruch zu allgemeinen Komfortkriterien. Ganz im Gegenteil. Entscheidend ist, den Menschen zuzuhören und zu erkennen, was für sie persönlich Lebens- und Wohnqualität ausmacht.

Der Mensch steht also im Vordergrund.

Ja, unbedingt. Auch die beste barrierefreie Wohnung bietet beispielsweise keine Garantie dafür, dort nicht zu stürzen. Weil wir die meisten Gefahrenstellen kennen, bieten wir in unseren Beratungen Lösungen an, wie Risiken verringert werden können.

Ist Barrierefreiheit nur der Türöffner zu einem Bauen mit sozialer Komponente, das sich von den Menschen und deren bisher vernachlässigten Bedürfnissen her definiert. Als da wären Mehrgenerationenhäuser, Wohngenossenschaften, Hausgemeinschaften, in denen man sich hilft.

Natürlich öffnet Barrierefreiheit die Tür in diese Richtung. Man kann auch sagen, sie ist die Grundlage dafür. Ohne Barrierefreiheit würde kein Mehrgenerationenhaus funktionieren. Dass man mit diesen scheinbar neuen Wohnformen zudem kompakter und damit preiswerter bauen kann, ist ein zusätzlicher wirtschaftlicher Anreiz.

Das mit den niedrigeren Baukosten ist erklärungsbedürftig.

Eine barrierefreie Schwelle ist teurer, auch eine bodengleiche Dusche kostet mehr. Barrierefrei Bauen bedeutet allerdings auch immer qualitativ hochwertiger zu bauen. Sich rechtzeitig zu kümmern, spart später enorme Kosten, da ein nachträglicher Einbau erheblich teurer wäre.

Was wünschen sich denn die Käufer von Eigentumswohnungen und private Bauherren?

Wird Barrierefreiheit geboten, kann die Generation 60 plus fürs Alter vorsorgen. In der Generation 40 plus nimmt man Barrierefreiheit mit, um spätere Umbaukosten möglichst zu vermeiden.

Lassen sich die Mehrkosten für eine barrierefreie Drei- bis Vierzimmerwohnung beziffern?

Pauschal ist diese Frage nicht zu beantworten. Ein Bauherr sollte aber bereit sein, für bestimmte Bauteile und Bereiche der Wohnung etwa 10 bis 15 Prozent mehr auszugeben.

Was sind die Mindeststandards einer Bauweise, die sich am Inklusionsgedanken orientiert und allen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen will?

Übergänge ohne Schwellen auszuführen, das ist der Mindeststandard. Schwellenlosigkeit in allen Bereichen und Mindestdurchgangsbreiten von Türen sind besonders wichtig. Als schwellenlos gelten dabei Übergänge von maximal zwei Zentimetern. Bei der Lokalbaukommission München hat man sich freiwillig auf einen Zentimeter geeinigt. Auch dann sind noch Einbruchssicherheit und Luftdichtigkeit gewährleistet.

Und wie breit sollen die Türen sein?

Die geforderte lichte Durchgangsbreite von Türen liegt bei mindestens 80 Zentimetern, bei Wohnungseingangstüren bei mindestens 90 Zentimetern. Dazu kommen größere Bewegungsflächen, wie sie im Alter gebraucht werden. In Bädern werden die Duschen zudem etwas größer und bodengleich. Dafür fällt die Badewanne weg und diese Fläche wird zum Beispiel als Bewegungsfläche frei verfügbar.

Was ist im Unterschied hierzu behinderten- oder rollstuhlgerecht?

Die Duschen werden noch größer, die Türen wesentlich breiter. Ein Rollstuhlfahrer hat einen Radius von etwa 1,5 Metern, dafür benötigt er den entsprechenden Platz und beispielsweise Unterfahrmöglichkeiten in der Küche und am Waschbecken. Ein Flur muss deshalb mindestens 1,5 Meter breit sein, um rollstuhltauglich zu sein.

Am weitesten ist die öffentliche Hand, auch weil an öffentliche Gebäude nun mal andere Ansprüche gestellt werden.

Der Münchner Architekt Uwe Gutjahr berät Bauherren im Auftrag der Architektenkammer beim barrierefreien Bau oder Umbau. (Foto: Günther Reger)

Ja. Hier gibt es bereits seit der Mitte der Siebzigerjahre klare Vorgaben, die sich im Wesentlichen bis heute nicht geändert haben. Allerdings wurden sie mit unterschiedlicher Intensität umgesetzt. Hinzu kommt, dass inzwischen eine größere Vielfalt an Einschränkungen und Behinderungen berücksichtigt werden müssen, darunter vor allem Seh- und Hörbehinderungen. Das sind zusätzliche Herausforderungen.

Gibt es Barrierefreiheit nur, wenn zuvor Barrieren im Kopf abgebaut werden?

Die Barrieren in den Köpfen sind da, sie gehören zu unserer Gesellschaft. Wir können die Unterschiede zwischen Lebenswelten von Menschen mit und ohne Behinderungen nicht einfach weg diskutieren. Inklusion könnte bedeuten, jeder sollte den anderen mitnehmen. Wir müssen noch mehr lernen, miteinander offen und rücksichtsvoll umzugehen.

Übersehen wir noch, dass von einem Lebensumfeld ohne Barrieren alle profitieren? Also Gesunde oder Eltern mit einem Kinderwagen ebenso wie Rollstuhlfahrer oder Senioren mit einem Rollator.

Richtig, im Grunde profitieren alle, sei es durch mehr Komfort beim Wohnen oder mehr Nutzungskomfort. Ein gutes Beispiel sind für mich Einkaufszentren. Dieses Gebäudekonzept funktioniert nur, weil es barrierefrei und damit komfortabel ist, also beispielsweise beim Einkauf eine angenehme Umgebung bietet, eine gute Lichtqualität und eine tolle Akustik. Das ist ein wesentlicher Bestandteil ihres Erfolges. Barrierefreiheit wird aber inzwischen auch von Industrieunternehmen zum Beispiel in Imagekampagnen durchaus positiv besetzt.

Was verbinden sie sonst noch mit der Idee der Barrierefreiheit?

Weit mehr als nur leicht zugängliche Duschen, Handläufe und Haltegriffe. Wir beraten beispielsweise auch sehr intensiv bei Stadtplanungen. Dabei wird der Ist-Zustand dokumentiert und gemeinsam mit den Bürgern eine Zielplanung für eine barrierefreie Kommune festgelegt. Barrierefreiheit befördert dabei den Umbau von einer autogerechten in eine fußgängergerechten Stadtlandschaft. Im letzten Jahrhundert sind Städte und Ortschaften vom Auto her gedacht und geplant worden. Durch eine andere Organisation des Verkehrs können Flächen für eine barrierefreie Nutzung des Stadtraums genutzt werden.

Wie in unterschiedlichen Zeiten gebaut wird, das sagt viel über das jeweilige Menschenbild aus. Was werden ihrer Meinung nach spätere Generationen über den Wohnungsbau nach der Jahrtausendwende sagen?

Angesichts des anhaltenden Baubooms im Großraum München ist zu befürchten, dass die nächste Generation eine ebenso schlechte Bauqualität erbt, wie sie teilweise in den Fünfzigerjahren nach dem Krieg entstanden ist. Hohe Grundstückspreise lassen die Tendenz erkennen, an der Bausubstanz, an den Standards und an der Qualität zu sparen. Die Konsequenz wäre dann eine kurze Lebensdauer von Gebäuden. Zukunftsfähigkeit muss deshalb beim Bauen einen noch größeren Stellenwert bekommen. Und Barrierefreiheit gehört in jedem Fall dazu.

Beratungstermine zum barrierefreien Bauen können bei der Architektenkammer in München unter der Telefonnummer 089/13 98 80 80 oder im Internet unter www.byak-barrierefreiheit.de/kontaktformular vereinbart werden. Die Erstberatung ist kostenlos.

© SZ vom 31.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: